Stromschnellen: Roman (German Edition)
pickten die flügge gewordenen Rotkehlchen in solchen Scharen herum, dass es sich anhörte, als wäre der Waldboden lebendig geworden. Kleiber liefen an Baumstämmen kopfüber in Spiralen hinunter und wieder hinauf. Truthahngeier zogen hoch oben am Himmel ihre Kreise und hielten, ihrem Geruchssinn folgend, nach Tieren Ausschau, die den Sommer nicht überlebt hatten. Und auf dem Fluss waren immer noch keine Polizeiboote zu sehen, die nach ihr suchten.
Margo entdeckte ihre alten moosbewachsenen Lieblingsplätze in den Wäldern der Murrays wieder, in denen Flechten, Farne und Fliegenpilze wuchsen, manche in prachtvollen Farben. Sie suchte nach Riesenbovisten und Schwefelporlingen und sah in der Abenddämmerung Tausende von Glühwürmchen, die sich auf- und wieder entluden. Die ganze Zeit hielt sie sich so gut wie möglich versteckt und war freudig überrascht, dass niemand auftauchte, um nachzusehen, was es mit dem bescheidenen Feuer auf sich hatte, das sie Abend für Abend entfachte und morgens wieder löschte. Ihre Habseligkeiten verwahrte sie im Boot, das sie mit ihrer alten grünen Persenning und Zweigen abdeckte. Sofern es nicht regnete, hielt sie sich draußen auf. Sie sammelte Kiefernnadeln, um sich neben der Feuerstelle ein weiches Lager zu bereiten, und stopfte die Reste der Matratzenfüllung in eine Plastiktüte, um sie als Kissen zu verwenden. In den Nächten, in denen sie satt gegessen unter dem Sternenhimmel lag und sich sicher und geborgen fühlte, war sie besonders einsam. Wenn man einen Menschen so geliebt hatte, wie sie Michael geliebt hatte, dann war das etwas, was man nicht einfach abschütteln oder abhaken konnte, sobald es vorbei war. Es machte sie auch traurig, dass sie Brian verloren hatte. Er war ihr mit der Zeit so vertraut geworden, und sie hatte so viel von ihm gelernt, und jetzt war der Teil von ihr, der Brians Gefährtin gewesen war, zu nichts mehr nutze.
Eines Tages hatte Michael ihr eine Landkarte mitgebracht, auf der Lake Lynne verzeichnet war, und sie hatten festgestellt, dass die Straße, in der ihre Mutter wohnte, am großen, fast eine Meile breiten und fünf Meilen langen See entlangführte. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, auf dem Wasserweg dorthin zu gelangen. Wenn Margo ihr schweres Boot doch nur um das Wehr bei Confluence herumtragen könnte! Wenn sie nur nicht, wie ihr Großvater es ausgedrückt hatte, im Stark River feststecken würde! Gewöhnlich bewahrte sie die Landkarte in ihrem Buch über Annie Oakley auf, aber als sie eines Abends am Feuer saß, riss sie den Teil, wo ihre Mutter wohnte, heraus und steckte ihn in ihren Geldbeutel, damit sie ihn immer zur Hand hatte.
Bei schönem Wetter ruderte Margo nach Einbruch der Dunkelheit drei Meilen flussabwärts in die Stadt, stellte sich auf die unbeleuchtete eiserne Fußgängerbrücke über dem Wasserfall im Park – sein Staubecken mündete in einen Bach und dieser wiederum in den Fluss –, spazierte am kleinen Ziegelsteinbau der Highschool vorbei, aus der sie nie schnell genug hatte herauskommen können, und überlegte, ob sie sich vielleicht mehr Mühe hätte geben sollen, wie die anderen Kinder zu sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich jemals sehr verändern würde, aber sollte sie noch einmal die Chance bekommen, Freunde zu finden, wollte sie sich mehr anstrengen.
Manchmal aß Margo Pizzareste aus dem Müllcontainer hinter der Pizzabude von Murrayville. Als sie dort eines Abends auf der hohen Bordsteinkante saß und im Schein der Straßenlaternen weggeworfene Zeitungen las, stieß sie auf eine Meldung aus Heart of Pines. Darin hieß es, man habe in der Marina von Heart of Pines in einem Boot die Leiche des circa zwei Wochen zuvor mit einer Flinte erschossenen Paul Daniel Ledoux gefunden. Die Tatwaffe habe beim Toten unter der Plane gelegen. Die einzigen Fingerabdrücke darauf stammten zwar vom Opfer selbst, doch gingen die Beamten nicht von Selbstmord aus. Im Boot habe sich darüber hinaus ein Kanister mit einer Substanz zur Herstellung eines Amphetamins befunden, der die besondere Aufmerksamkeit der ermittelnden Behörden gelte. Sie brächten den Mord mit Drogengeschäften in Verbindung. Mit keinem Wort wurde in dem Artikel die Hütte oder das Fass mit der Flüssigkeit oder ein am Fluss wohnender Informant erwähnt. Das Opfer hinterließ eine Frau und drei Kinder im Alter von fünf, sieben und neun Jahren. Margo legte das mit Champignons und Würstchen belegte Pizzastück zurück in die Schachtel und
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