Studio 6
sozialdemokratische Ministerpräsident ging Hand in Hand mit seiner neuen Frau auf dem Marktplatz seiner sörmländischen Heimatstadt spazieren und winkte, und Annika freute sich, als sie ihren alten Arbeitsplatz im Hintergrund erkennen konnte. Der Ministerpräsident kommentierte kurz den Artikel seines ehemaligen Parteisekretärs über die IB-Affäre.
»Das ist keine Frage, die wir mit ins nächste Jahrtausend schleppen wollen«, sagte er müde. »Wir werden der Sache auf den Grund gehen. Wenn man dazu einen Untersuchungsausschuss braucht, dann werden wir einen einsetzen.«
Dann wurde das vorproduzierte Material gesendet. Der Russlandkorrespondent des Schwedischen Fernsehens, ein ausgesprochen guter Mann, war in Kaukasien gewesen und hatte den langen, blutigen und ausgedehnten Konflikt in einer der ehemaligen Sowjetrepubliken geschildert. Das Gute an der Saure-Gurken-Zeit, dachte Annika, ist, dass man eine Menge in den normalen Nachrichtensendungen sieht, was man sonst niemals zu Gesicht kriegen würde.
Der alternde Präsident der kaukasischen Republik wurde interviewt. Er überraschte den Reporter damit, dass er Schwedisch sprach.
»Ich war von 1970 bis 1973 in der sowjetischen Botschaft in Stockholm stationiert«, sagte er mit starkem Akzent.
»Fantastisch«, sagte Annika fassungslos.
Der Präsident war tief besorgt. Russland versorgte die Rebellen mit Waffen und Munition, er selbst litt stark unter dem internationalen Waffenembargo, das die Vereinten Nationen gegen sein Land verhängt hatten. Er war das Opfer mehrerer Mordversuche gewesen und seither schwer herzkrank.
»Mein Land leidet«, sagte er auf Schwedisch und starrte in die Kamera. »Die Kinder sterben. Das ist ungerecht.«
Meine Güte, wie schlecht es den Leuten geht, dachte Annika und holte sich einen Plastikbecher mit Kaffee. Als sie zurückkam, lief ein Nachrichtenüberblick mit kurzen innerschwedischen Meldungen. Ein Autounfall in Enköping. Ein junges Mädchen war im Kronobergspark in Stockholm tot aufgefunden worden. Der Fluglotsenstreik war abgewendet, nachdem auch die Gewerkschaft dem letzten Angebot der Schlichter zugestimmt hatte. Die Nachrichten wurden hintereinander gelesen wie kurze Live-Einschnitte über nichts sagenden Totalen. Offenbar hatte irgendein Fotograf vom Fernsehen den Weg nach Kungsholmen gefunden, denn es wurden ein paar Sekunden flatterndes blauweißes Absperrband und üppiges Parkgrün gezeigt. Mehr gab es nicht.
Annika seufzte. Das würde nicht leicht werden.
Patricia fror. Sie schlang die Arme um sich und zog die Füße auf den Sitz. Der Luftstrom von der Belüftungsanlage zog über den Fußboden und brachte Abgase und Pollen herein. Sie nieste.
»Haben Sie sich erkältet?«, fragte der Typ vom Vordersitz. Er war wirklich nett, aber trug ein widerliches Hemd.
Kein Stil. Sie mochte lieber ältere Typen, die waren nicht so scharfe Hunde.
»Nein«, antwortete sie sauer, »ich bin allergisch.«
»Wir sind gleich da«, sagte er.
Neben ihm, am Steuer, saß eine richtige Tussi, so eine Polizistin, die viel härter drauf sein musste als alle Typen, um respektiert zu werden. Sie hatte Patricia steif begrüßt und anschließend ignoriert.
Sie schaut auf mich herab, dachte Patricia. Sie meint, sie sei was Besseres.
Die Polizistin war den Karlbergsväg heruntergefahren und hatte die Norra Stationsgatan gekreuzt. Eigentlich durften nur Busse und Taxis da fahren, aber das war der Tussi offensichtlich egal. Sie fuhren unter einer großen Hauptstraße hindurch und kamen von hinten in das Gebiet um das Karolinska-Institut mit der medizinischen Hochschule, der Rechtsmedizin und den großen Krankenhäusern. Rote Ziegelsteinbauten unterschiedlicher Epochen lösten einander ab, eine kleine Stadt in der Stadt.
Kein Mensch war unterwegs, es war schließlich Samstagabend. Das Scheele-Laboratorium glitt auf der rechten Seite vorüber, die Tomteboda-Schule erhob sich wie ein rostroter Palast oben zur Linken. Die Tussi bog nach rechts ab und stellte das Auto auf einem kleinen Parkplatz ab. Der Typ in dem grässlichen Hemd stieg aus und öffnete die Tür auf ihrer Seite.
»Die Sicherung ist noch drin«, sagte er.
Patricia konnte sich nicht bewegen. Sie saß mit den Füßen auf dem Sitz, die Knie unter dem Kinn. Ihre Zähne klapperten.
Das passiert jetzt nicht, dachte sie. Ein schlechtes Omen nach dem anderen. Positive Gedanken, positive Gedanken …
Die Luft war jetzt so dick, dass sie nicht mehr in ihre Lungen vordringen konnte.
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