Studio 6
denn tun?«, fragte Pettersson erstaunt.
»Sie haben ja keine Ahnung«, meinte Annika.
Sie fuhren zur Redaktion zurück, indem sie einen langen Umweg über Gamla Stan und Södermalm nahmen. Noch einmal am Kronobergspark vorbeizufahren war undenkbar.
Es war schon fast halb fünf, als sie in die Redaktion zurückkehrten.
»Und, wie war es?«, fragte Ingvar Johansson am Newsdesk.
»Es war die Hölle«, antwortete Annika. »Sie haben uns angegriffen und auf der Motorhaube Zeitungen angezündet.«
Ingvar Johansson blinzelte skeptisch.
»Jetzt mal langsam«, sagte er.
»Das ist die reine Wahrheit«, gab Annika zurück. »Es war verdammt unangenehm.«
Plötzlich musste sie sich setzen und sank auf den Desk.
»Also haben Sie kein Interview? Kein Bild?«, fragte der Mann.
Annika schaute ihn an und hatte das Gefühl, zwischen ihm und ihr wäre eine dicke Scheibe aus Plexiglas.
»So ist es«, erwiderte sie. »Es lässt sich aber sowieso nichts draus machen. Die Jugendlichen waren nur auf einen Kick aus, sie haben sich in eine Massenpsychose hineingesteigert. Wir hatten Glück, sie hätten das Auto umstoßen und anzünden können.«
Ingvar Johansson sah sie eine Weile mit großen Augen an, drehte sich dann um und nahm den Telefonhörer in die Hand.
Annika stand auf und setzte sich an Berits Platz. Plötzlich merkte sie, dass ihr die Knie zitterten, sie hatte einen Kloß im Hals.
Ich werde noch eine verdammte Heulsuse, dachte sie.
Sie setzte sich auf und las Agenturmeldungen und seltsame Fachzeitschriften, bis um drei Minuten nach sechs die Erkennungsmelodie von Studio 6 zu hören war.
Später würde sie die nun folgende Stunde als einen surrealistischen Albtraum in Erinnerung behalten, der in den folgenden zehn Jahren immer wieder in ihren Träumen auftauchte. Wann immer die E-Gitarre einsetzte, würde sie spüren, wie schutzlos und unvorbereitet sie gewesen war, wie naiv sie dagestanden und sich hatte abschießen lassen.
»Die Abendpresse hat heute wieder einen neuen Tiefpunkt in Sachen Sensationslüsternheit erreicht«, donnerte der Moderator. »Die Zeitungen nehmen trauernde Jugendliche als Aushängeschild, verbreiten falsche Gerüchte über Angehörige und machen sich zum Sprachrohr von Politikern, um gemeinsam die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen. Mehr dazu im aktuellen Magazin mit Debatten und Analysen, direkt aus Studio 6.«
Annika hörte die Worte, ohne sie richtig zu begreifen.
Sie ahnte, wollte aber nicht verstehen.
Die E-Gitarre verklang, und der Moderator ergriff wieder das Wort.
»Es ist Donnerstag, der 2. August, willkommen im Studio 6 im Funkhaus Stockholm«, leierte er.
»Heute wollen wir uns einmal die Berichterstattung über den Mord an der Stripperin Josefine Liljeberg durch das
Abendblatt
ansehen. Zu Gast bei uns im Studio haben wir zwei Menschen, die Josefine beide gut kannten, ihre beste Freundin Charlotta und der stellvertretende Rektor ihres Gymnasiums, Martin Larsson-Berg. Außerdem haben wir mit ihrem Freund Joachim gesprochen …«
Langsam wurde ihr schwindelig. Ihr wurde bewusst, was jetzt kommen würde. Sie streckte die Hand aus, um das Radio auszuschalten, hielt aber inne.
Es ist besser, zu hören, was sie sagen, als hinterher darüber nachgrübeln zu müssen, dachte sie.
Diese Entscheidung sollte sie später oft bereuen, denn die Worte würden sich wie ein Mantra in ihrem Sprachzentrum festsetzen.
»Fangen wir mit Ihnen an, Charlotta, können Sie einmal beschreiben, was das
Abendblatt
Ihnen angetan hat?«
Charlotta brach in Tränen aus, was der Moderator offenbar sehr effektvoll fand, denn er ließ sie ungefähr eine halbe Minute lang gewähren, ehe er sie bat aufzuhören.
Das tat sie dann auch augenblicklich.
»Ja, also«, stotterte Charlotta und schluchzte wieder, »da war diese Reporterin, Annika Bengtzon, die mich zu Hause anrief und in meinem Unglück herumwühlen wollte.«
»Inwiefern?«, fragte der Moderator, der ungeheuer mitleidig und verständnisvoll klang.
»Meine beste Freundin war gestorben, und sie rief mich mitten in der Nacht an und wollte wissen, was das für ein Gefühl ist.«
»Unglaublich!«, stieß der Moderator hervor.
Charlotta schluchzte wieder.
»Ja, das war das Schlimmste, was mir je passiert ist. Wie soll man nach so etwas noch weitermachen können?«
»Ging es Ihnen genauso, Martin Berg-Larsson?«
»Larsson-Berg«, verbesserte der stellvertretende Rektor.
»Ja, im Großen und Ganzen schon. Ich war ja nun kein enger Freund des
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