Studio 6
einigermaßen, aber als er an Nacka Centrum vorbeifuhr, ging nichts mehr. Ein Unfall auf dem Värmdöleden hatte zu kilometerlangen Staus geführt. Er stöhnte laut auf. Die Abgase stiegen wie Nebel zwischen den Wassertropfen hoch.
Schließlich machte er den Wagen aus und ließ die Klimaanlage auf Innenbelüftung laufen.
Er wurde nicht schlau aus dem
Abendblatt.
Vier Monate lang hatte er die Zeitung jetzt gründlich gelesen, seit er das erste Mal das Angebot erhalten hatte, die Leitung der Nachrichtenredaktion zu übernehmen. Vieles war natürlich selbstverständlich, zum Beispiel, dass die Zeitung ständig auf der Grenze zum moralisch und ethisch nicht mehr Vertretbaren balancierte. Das musste bei einer solchen Zeitung so sein.
Manchmal wurde die Grenze überschritten, aber im Grunde erstaunlich selten. Er hatte gründlich die Anzeigen beim Ombudsmann der Presse und beim Presseverband studiert, ebenso wie die gefällten Urteile, denn natürlich waren die Abendzeitungen ein selbstverständlicher Bestandteil der Statistiken. Sie wurden weitaus öfter angezeigt als alle anderen, was ganz natürlich war. Die Aufgabe der Abendpresse war es, zu provozieren und Reaktionen hervorzurufen. Und doch gab es nur etwa ein oder zwei Urteile pro Jahr. Es hatte ihn erstaunt, dass die Liste verurteilter Artikel meist von den Lokalzeitungen angeführt wurde, den kleinen, übers ganze Land verstreuten Zeitungen, die oft nicht richtig einschätzen konnten, wo die Grenzen verliefen.
Daraus hatte er den Schluss gezogen, dass das
Abendblatt
ein äußerst verantwortungsbewusstes Medienunternehmen war, dass Artikel, Aufmacher und Kolumnen wohl abgewogen waren und man auf Kontinuität, Offenheit und Diskussion setzte.
Die Wirklichkeit lag Lichtjahre von dieser idealisierenden Vision entfernt, das hatte er bereits feststellen müssen.
Beim
Abendblatt
hatte man oft nicht die geringste Ahnung davon, was man gerade tat. So schickten sie zum Beispiel dieses sörmländische Landei zu Leichen und Lynchmobs und erwarteten von ihr, dass sie immer glasklare und verantwortungsbewusste Beurteilungen abgab. Gestern Abend hatte er mit den Nachrichtenchefs für den Tag- und Spätdienst geredet, und keiner von beiden hatte mit ihr je direkt die Behandlung des Mordes an Josefine Liljeberg besprochen. Das empfand er als ein verantwortungsloses und inkompetentes Verhalten der Redaktionsleitung.
Und dann diese seltsame Geschichte mit den Terroristinnen – keiner im Führungskreis der Redaktion schien eigentlich zu wissen, woher die Story genau kam. Eine Aushilfe tanzte mit sensationellen Fotos in der Hand in die Redaktion, alle jubelten und veröffentlichten sie, ohne auch nur einen Moment lang nachzudenken.
So konnte es nicht weitergehen. Um auf einem schmalen Grat balancieren zu können, musste man ganz genau wissen, wo er verlief. Rechts und links lauerten Katastrophen, er konnte ihren sauren Atem bereits spüren. Studio 6 gestern war nur ein erster Hinweis gewesen. Das
Abendblatt
wurde zu einer leichten Beute. Wenn die Redaktion in dieser Lage anfing zu bluten, würden sich die Aasgeier bald sammeln. Die Medien würden die Zeitung in Stücke reißen. Dann würde es nichts helfen, wie oder was man schrieb, denn alles würde als falsch und verwerflich angesehen werden. Wenn das Bewusstsein nicht schnell und ernsthaft geschärft wurde, war der Abgrund nah, was die Auflage, aber auch die journalistischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Zeitung betraf.
Auf der Spur nebenan kam der Verkehr wieder ins Rollen. Er startete das Auto und ließ es mit angezogener Handbremse im Leerlauf laufen.
Zweifellos gab es in der Redaktion viel Kompetenz, aber es fehlte an Führung, Zusammenhalt und absoluter Verantwortlichkeit. Alle Journalisten mussten sich ihrer Aufgabe und ihrer Fähigkeiten bewusst sein, das Ziel musste deutlich gemacht werden. Damit hatte er eine der vielen Funktionen umrissen, die von ihm in der Redaktion erwartet wurden: Er sollte der Scheinwerfer gegen den Stacheldraht sein. Das Licht musste auf den Abgrund gerichtet werden, und zwar in Form von Diskussionen, Seminaren, täglichen Konferenzen und neuen Arbeitsabläufen.
Die Autos zu seiner Linken fuhren nun immer schneller vorbei, während er selbst keinen Millimeter vorankam. Er fluchte und versuchte nach hinten zu schauen, konnte allerdings überhaupt nichts erkennen. Am Ende setzte er einfach den Blinker und scherte mit Todesverachtung nach links aus. Der Autofahrer, vor den er sich
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