Stürmische Begegnung - zauberhafte Eroberung
gesehen habe.“ Hester schob entschlossen das Kinn vor.
Emily seufzte; sie wusste, wie stur ihre Freundin sein konnte. „Dann lass mich mitkommen. Wenn dich später jemand zur Rede stellt, kannst du wenigstens sagen, dass du in Begleitung warst.“
Hesters schlechte Laune war wie weggeblasen. „Das würdest du tun? Obwohl Jye ein bisschen …“
„… unheimlich ist?“ Emily erzitterte.
„Sagen wir: unberechenbar. Aber ich weiß ja, dass du dich vor ihm fürchtest; deshalb würde ich dich ja nie darum bitten mitzukommen. Und jetzt habe ich auch noch die Mitbringsel eingebüßt, die ihn besänftigen sollten …“
„Soll er ruhig die Hunde auf uns hetzen; ich laufe schneller als sie.“
Hester lachte. „Marquis oder Zigeuner – kein Mann kann uns hindern, unserem Gewissen zu folgen!“
Mit frisch gewaschenem Gesicht, trockenen Kleidern und ihrer Freundin an der Seite kehrte Hester an den Unfallort zurück. Die Bänder ihrer Haube, die sich in einem Weißdorn verfangen hatten, waren gerissen; sie würde neue annähen müssen. Von den Kuchen, Pasteten und Konserven aus ihrem Korb war nichts zu retten, aber ein Päckchen mit buntem Papier und Kreiden war unversehrt geblieben. Frohlockend wischte sie den bereits gefrorenen Schmutz von dem Mitbringsel.
Sie waren noch nicht weit gegangen, als Emily aussprach, was sie offenbar schon eine Weile beschäftigte: „Bist du überhaupt sicher, dass es der Marquis war?“
„Ja, Tante Susans Beschreibung passte haargenau.“ Sie verzog den Mund. „Natürlich hat sie versucht, ihn möglichst attraktiv darzustellen: ‚Ein Mann von Welt, groß gewachsen und vornehm im Auftreten.‘ Ha! Wohl eher ein grober Klotz mit den Schultern eines Kohlenträgers. Seine Augen sind so hart und schwarz wie Pechkohle. Ich habe wohl noch nie einen Mann gesehen, der so … schwarz war. Seine Kleidung, das Haar … sogar sein Vokabular scheint aus dem Kohlebergbau zu stammen. Für normale Sterbliche wie uns hat er nur Spott und Verachtung übrig.“
Emily runzelte die Stirn. „Er hat dich bestimmt für ein Dienstmädchen gehalten, weil du so … äh … praktisch gekleidet und ohne Begleitung unterwegs warst.“
„Na, dann trifft ihn ja keine Schuld!“ Hester beschleunigte ihre Schritte, sodass Emily mit ihren kürzeren Beinen kaum hinterherkam. „Mein Fehler, dass ich ihm in die Quere gekommen bin.“
„So meinte ich das nicht“, wandte Emily atemlos ein. „Ich glaube nur nicht, dass er deine Cousinen genauso behandeln wird.“
„Oh, er wird es natürlich überspielen, aber im Grunde wird er sie ebenso verachten. Männer seines Standes sehen in Frauen bestenfalls Spielzeug. Ich habe dir doch von den armen Dingern erzählt, um die Mrs. Parnell sich kümmert.“
Mrs. Parnell – eine ehemalige Schulfreundin, der Hester während ihrer kurzen, unerfreulichen Ballsaison wiederbegegnet war – unterhielt ein Haus für ledige Mütter und Findelkinder. Hester war es von Tag zu Tag schwerer gefallen, bei den Tanzabenden mit Männern Konversation zu machen, von denen sie wusste, dass sie ihre Geliebten aus unteren Gesellschaftsschichten gnadenlos im Stich ließen, sobald diese schwanger wurden, und sich dann mit ahnungslosen Mädchen aus ihrer eigenen Klasse verheirateten, um mit der Mitgift ihre Laster zu finanzieren. Sobald einer dieser Gentlemen sie mit jenem lasziven Glanz in den Augen betrachtet hatte, den andere junge Frauen als schmeichelhaft empfanden, hatte Hester bebend die Flucht ergriffen.
„Frauen sind doch völlig rechtlos“, fuhr sie fort. „Ein Mann kann sich seiner Gattin gegenüber alles herausnehmen. Mir graut davor, dass Julia oder Phoebe in die Fänge eines Scheusals wie Lord Lensborough geraten.“
Schon seine bloße Anwesenheit im Hause war ihr zuwider. Er würde ihre Cousinen so beäugen, wie Junggesellen auf Brautschau das eben taten, und damit das ganze Familientreffen vergiften.
Emily ergriff Hesters Hand. „Lern ihn doch erst mal kennen, bevor du ihn so verdammst. Schließlich kann man aus deinem Verhalten auch falsche Schlüsse ziehen, wenn man dich nicht so gut kennt wie ich.“
Hester riss sich los und kletterte über einen Zauntritt.
„Was für ein Vergleich!“, rief sie über die Schulter, während sie über die Wiese auf die bunt bemalten Wohnwagen zueilte, die im Halbkreis um ein Feuer standen.
Sie versuchte in der Schar der abgerissenen Kinder, die ihr entgegenliefen, das eine auszumachen, dessentwegen sie gekommen war. Als sie
Weitere Kostenlose Bücher