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Stürmisches Paradies

Stürmisches Paradies

Titel: Stürmisches Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Beattie
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Sturzflut von Tränen war versiegt – wenn man bedachte, dass sie die letzten paar Stunden geweint hatte, war sie überrascht, dass überhaupt noch welche übrig gewesen waren – und nur noch ab und zu lief ihr eine Träne über die Wange. Erschöpft und todmüde lehnte sie sich an Blake und war dankbar für seine Unterstützung. Wenigstens war ihr nicht mehr kalt, und sie zitterte auch nicht mehr. Ihre Hände ruhten auf seiner Brust, und unter ihrer Handfläche spürte sie den beruhigenden Rhythmus seines Herzschlags.
    Er sagte, er wünsche sich, er wäre bei ihr gewesen, als ihr Gedächtnis zurückkehrte, aber Alicia war froh, dass er es nicht war. Beim ersten Donnern der Kanonen, als die Geräusche sowohl von oben als auch von unten auf sie eindrangen, wurde sie von Erinnerungsfetzen aus ihrer Vergangenheit heimgesucht. Nur, dieses Mal waren sie nicht in kleine Stückchen zerteilt. Sie waren vollständig und klar und trafen sie völlig unvorbereitet.
    »Der Krach war genau wie in jener schrecklichen Nacht. Ich hatte vergessen, wie laut es war.«
    »Hat das die Erinnerungen zurückgebracht?«, fragte Blake.
    »So muss es gewesen sein. In der einen Minute saß ich auf dem Bett und in der nächsten lag ich schon auf dem Fußboden, und mein Kopf zerplatzte schier vor lauter Bildern.«
    Blake beugte sich zur Seite und legte ihr die Hand unters Kinn. »Kannst du mir davon erzählen?«
    Ihr Kinn zitterte und sie biss sich fest auf die Lippe.
    »Zuerst habe ich damals den Lärm gehört. Bevor ich wusste, was er bedeutete, kam meine Mutter in meine Kabine gerannt. Sie hatte solche Angst, Blake. Ihr Gesicht war aschfahl, und ihre Hände zitterten, als sie meinen Arm packte. Ich wusste, was auch immer da passierte, es war schlimm, denn sie hielt mich fest an sich gepresst«, sagte Alicia und rieb sich die Arme. Es war, als ob sie die Finger ihrer Mutter noch spüren konnte, die sich in ihre Haut gruben.
    »Ich wusste nicht, dass man Angst riechen kann, aber in jener Nacht roch ich sie. Sie hing schwer in der Luft und mit jedem Atemzug, den ich nahm, füllte sie meine Lungen, bis ich beinahe daran erstickte.« Sie blickte in Blakes dunkle Augen. »Dein Vater hatte recht – es waren Piraten. Ich erhaschte einen Blick auf einen von ihnen, als wir aus der Kabine rannten. Meine Mutter versteckte uns im Schiffsbauch, und wir saßen in diesem stinkenden Wasser, während die Piraten unser Leben zerstörten. Während meine Mutter mich im Arm hielt und weinte, lachten sie und jubelten.
    Dieses Gefühl, von dem ich dir erzählt habe, das Gefühl, dass es nass und mir kalt war, jetzt weiß ich, was es bedeutete.«
    Blake nahm ihre Hand, öffnete ihre Finger und verschränkte sie mit seinen. Er drückte sie sachte. »Wie seid ihr, du und deine Mutter, vom Schiff gelangt?«
    Alicia sortierte ihre neu aufgefundenen Erinnerungen. »Es schienen Stunden zu sein, die wir warteten, während die Piraten die Treppen hinauf- und hinabrannten und das Schiff plünderten. Sie kamen nie dorthin, wo wir waren, aber wir rührten uns nicht, bis das Schiff völlig still war. Wir dachten, sie wären gegangen. Aber dann hörten wir wieder Stimmen und Bewegung, also blieben wir noch länger sitzen. Erst als wir beide vor Kälte zitterten und es schon eine Weile her war, seit wir irgendetwas gehört hatten, erst dann wagten wir es, uns zu rühren. Wir wateten durch das Wasser – es war deutlich tiefer geworden, seit wir runtergegangen waren – und bahnten uns einen Weg an Deck.
    »Waren sie fort?«
    »Ja. Meine Mutter sagte, ich solle nicht hinsehen, meinen Kopf hoch halten, aber ich konnte das Blut nicht übersehen, Blake. Es war überall. Wir stiegen über tote Körper und abgetrennte Glieder und rutschten auf dem Blut aus.« Alicia presste sich die Hand vor den Mund und atmete solange tief ein und aus, bis sie wusste, dass sie fortfahren konnte, ohne sich übergeben zu müssen.
    »Sie schrie nach Sam und meinem Vater. Der einzige Segen war, dass wir meinen Vater in jener Nacht nicht sahen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir beide das ertragen hätten.«
    »Habt ihr das Schiff dann verlassen?«
    »Sie dachte gerade darüber nach, wie wir das anstellen sollten, als etwas explodierte. Ich erinnere mich an einen sengenden Schmerz, so als ob mein Gesicht in Flammen stünde, und dann fiel ich hin.« Alicia musste wieder tief durchatmen, um sich zu beruhigen. »Ich sah sie, als ich fiel. Sie war ebenfalls verletzt. Ihr Nachthemd war zerrissen und voller Blut.

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