Stumme Angst (German Edition)
einzuschlafen.
Reiß dich zusammen, Anna! Überleg dir, was realistisch ist. Wie lange wird die Polizei brauchen, um Natan zu befragen?
Sonntag wird Liam zur Polizei gegangen sein, vielleicht auch erst Montag. Weil er stolz ist. Weil er nicht zugeben will, dass er mich liebt. Weil er sich denken wird: wenn sie einfach nur keinen Bock hat? Wie sieht das denn aus, wenn ich gleich zu den Bullen latsche?
Montag also. Vor zwei Tagen. Werden sie sich Gedanken gemacht haben, wo ich stecken könnte. Werden sie meine Wohnung durchsucht haben, werden sie versucht haben, Selma zu erreichen. Und dann? Gespräche mit Liam, mit Marie, Rebecca. Mit all meinen Freunden. Und gleich am Montag hätte Marie es ihnen sagen können. Natan, dieser Kerl, der unheimlich war.
Also, das ist doch ganz einfach! Sie werden ihn ausfindig machen! Seinen Kontakt über die Kunsthochschule rausfinden. Dass er dort immatrikuliert war, weißt du doch noch Marie!
Und selbst wenn es dir erst gestern eingefallen ist. Dann machen sie sich heute an die Arbeit.
Heute wird Natan also einen Anruf bekommen. Wird die Polizei vor seinem Haus in der Stadt stehen. Dort klingeln, eine Nachricht hinterlassen. Und wenn er sich nicht meldet. Wenn er nicht auffindbar ist. Dann ist er doch erst recht verdächtig! Dann werden sie in seinem Leben herumschnüffeln, bis sie dieses Haus finden. Und nicht erst im Winter. Wie lange dauert so was? Noch eine Woche, maximal zwei.
Ich wasche ihn von mir ab. Taste über das Herpesbläschen, die Kruste tut weh. Er hat auch eines bekommen, sieht hässlich aus wie ich.
Schämst du dich nicht, würde ich ihn am liebsten fragen. Schämst du dich nicht?
Ich ziehe das Buch hinter der Kachel hervor. Die Kachel – diese schmale Platte in meiner Hand. Soll ich ihn damit schlagen? Nein, ich kann das nicht. Das Messer in seiner Hand, das Risiko ist mir zu hoch. Die Rechnung ist einfach, oder nicht? Eine Woche noch, maximal zwei.
Sollen sie kommen und in dunklen Uniformen vorrücken. Wie nennt man so was? Swat-Team. Sondereinsatzkommando. Sollen sie ihm eine Kugel in den Kopf jagen. Doch was, wenn er eine ähnliche Rech nung aufstellt? Wenn er sich denkt: nur zwei Wochen. Und dann lasse ich sie verschwinden.
Aber nein, Anna, nein! Du musst dich eben anstrengen. Er hat dich gern. Er ist ein kranker Mensch. Du musst ihm geben, was er braucht, damit er stabil bleibt. Und dass ich Marie alles erzählt habe, kann er nicht wissen.
Du brauchst etwas, über das du mit ihm sprechen kannst.
Warum nicht über das Buch. Warum zeigst du es ihm nicht. Ich lausche, höre nichts, beginne zu lesen.
4. November 1941
Vater sagt, dass ich wieder rausgehen muss, bevor es den anderen seltsam vorkommt.
Morgen gehe ich zum Bund deutscher Mädchen. Was diesmal wohl auf dem Programm steht? Ein strammer Marsch durch den Wald, einheimische Vogelkunde? Magda wird vorausgehen, Lotte und ich sind wie immer die Letzten, manchmal betrachten uns die anderen argwöhnisch.
»Bitte«, fleht Papa. »Spiel es einfach weiter, dieses Spiel! Du bist alles, was ich noch habe.«
Ich nicke, ich weine. Den ganzen Tag weine ich, strecke die Fühler aus, doch ich weiß nichts, ich höre nichts! Wahrscheinlich wird er weit fort sein.
Ich liebe Papa, es tut mir leid, dass er solche Angst hat. Deswegen werde ich brav zum Bund deutscher Mädchen gehen. Aber nicht in die Schule. Nicht in die Schule!
Ich kann nicht mehr. Der Traum ist vorbei, ich werde niemals Medizin studieren.
5. November 1941
Gestern waren sie hier, alle drei.
Heinrich. Arnold. Severin.
Ich saß auf der Schaukel, als sie um die Hausecke traten, meine Finger krallten sich um das kalte Metall. Ich wollte nie wieder loslassen.
Es war früher Abend, Vater machte die Suppe warm. Ihre Blicke streiften mich, und mein Herz, das stehen blieb. Sie polterten in die Küche.
»Herr Steiner!«
Vater ist ein ruhiger, würdevoller Mann, ich habe ihn nie zuvor schreien hören. Jetzt brüllte er wie einer, der gebrochen ist. Versuchte, sie zu verjagen. Doch was will man machen gegen die großen, arischen Jungen?
Sie wollten ganz freundschaftlich mit ihm reden, behaupteten sie. Nur sichergehen, dass der Jud nicht bei uns versteckt ist. Hätten keinem was erzählt von den Küssen zwischen dem Jakob und mir. Ob er davon wüsste, hörte ich sie durch das Küchenfenster fragen.
»Alles weiß ich!«, schrie Vater. »Alles!«
Etwas zertrümmerte, ich lief in die Küche, ließ endlich die Schaukel los.
»Hört auf!«,
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