Stumme Angst (German Edition)
vorsichtig, will Hallo sagen, doch sie rühren sich nicht, lassen die Ellenbogen auf den breiten Kissen ruhen.
Liam schnappt sich die Kamera und zoomt sie heran. Durch das Objektiv kann er das Misstrauen in ihrem Blick lesen, die Überraschung über das, was in der anderen Wohnung vor sich geht. Wahrscheinlich wird es nicht mehr lange dauern, bis einer der beiden Kommissare sie befragt.
Der Bernhardiner und Kapitän haben sich inzwischen angefreundet, schnüffeln aneinander herum. Liam berührt das Fell der großen Hündin. Es ist dichter, flauschiger als das von Kapitän.
»Darf ich ihr was geben?«, fragt er die Hundeführerin, eine schlanke Frau mit unzähligen Sommersprossen. Ihr Gesicht wirkt unbeteiligt, als ob es ihr egal wäre, ob er was mit der Sache zu tun hat. Oder als wüsste sie gar nicht genau, um was es bei der Suche eigentlich geht. Sie zuckt die Schultern. »Warum nicht.«
Liam fischt Salami aus dem Kühlschrank. Verteilt sie an Kapitän, der gierig schnappt, und an die Hündin, die sie ihm sacht aus der Hand zupft. Wieso hat sein Köter nicht solche Manieren?
»Ich bin dann hier fertig«, sagt die Polizistin und zieht die Hündin an der Leine. Der Kommissar tritt zu ihnen in den Flur.
»Ich muss Sie bitten, in der Stadt zu bleiben, Herr Lorenz.«
Liam wendet den Kopf ab, muss schon wieder blinzeln. Spürt, dass ihm ein Tropfen aus der Nase läuft. Wischt ihn mit dem Handrücken ab, damit der Kommissar nichts bemerkt.
»Bitte. Konzentrieren Sie sich nicht auf mich. Das ist pure Zeitverschwendung.«
Die Tür fällt ins Schloss.
Was zurückbleibt, ist das Klacken in der Spüle. All die Dinge, die in seiner Wohnung umhergeschoben wurden. Der Geruch nach fremden Menschen, dem klebrigem Rasierwasser des jungen Kommissars.
Er tritt in die Küche, krümmt sich auf dem Fußboden zusammen. Das Licht ist mild geworden, die ersten Schattenberge tasten über die Wand.
» Shadowmountains , Anna. Ein neues Wort, das du nicht kennst.«
Er lässt den Schmerz zu. Tränen, findet er, fühlen sich seltsam an.
Kapitän legt den Kopf in seinen Schoß. Er fotografiert ihn, die Kamera liegt gleich hier, neben ihm. Für dich, Anna. Du sollst wissen, wie alles gewesen ist. Wie die beiden Kommissare auf dem Sofa saßen, wie deine Skizzen über den Küchentisch zerstreut lagen. Das Gesicht der Hundeführerin, das der beiden Alten von gegenüber.
Dann hat er einen anderen Gedanken. Steht auf und geht hinüber zum Küchentisch. Dort liegt sie. Die Liste. Er fotografiert sie ab, prägt sich die Namen darauf ein. Er wird unten anfangen. Zuerst mit Torben, dann mit Andreas, Erik, Björn, Natan, Elias. Sie alle wird er abklappern, mit ihnen persönlich sprechen. Er wird es genau wie die Bullen machen: Jemanden weichklopfen.
Mittwoch, Tag 6, Anna
D ie Hitze in diesem Zimmer. Sein Körper neben meinem, sein Atem im Nacken. Die Stunden sind gleich, die Tage, die Hitze. Die sich zwischen den Wänden des Zimmers ausbreitet, dicht presst sie sich heran, so wie er. An meine Haut. Und die Angst, immer ist sie da. Genau wie das verzerrte Gesicht aus den Holzlatten. Quasimodo, der stumme Mann. Immer starrt er mich an, mal grinsend, mal die Zähne fletschend. Wirft schwere Steine in meinen Bauch, heiße, manchmal auch sehr, sehr kalte.
Die letzte Nacht. Ich versuche, das Zittern einzustellen. Er schläft, endlich. Und er kann dir nichts tun, wenn er schläft, Anna.
Bis zum Winter schaffen wir es nicht. Wie lange dann? Eine Woche vielleicht noch, oder zwei. Wie viel kann man aushalten? Du musst dich beeilen, Marie. Musst schnell sein!
Als er aufwacht, streichelt er mich. Spricht nicht, wir liegen bloß da. Irgendwann geht er ins Bad und die Dusche läuft lang. Später riecht er nach Duschgel und sein Blick wirkt für einen Moment befangen. Als würde er sich ein wenig schämen.
Er schließt mich ins Bad ein. Kannst dir Zeit lassen, meint er und geht nach unten, um Frühstück zu machen.
2,5 Quadratmeter. Die Kacheln, die Angst. Etwas fließt aus mir heraus. Ich reibe Blut zwischen den Fingern, ich zittere vor Erleichterung. Ob er mich jetzt für ein paar Tage in Ruhe lassen wird?
Mama. Du könntest kommen und mich in den Arm nehmen. Nur du und sonst keiner.
Ich habe keine Angst vor dem Tod. Nur vor dem Anblick des Messers. Neben dem Orangensaft wird es gleich liegen oder in seiner Hand. Frühstück mit Messer.
Ich glaube, wenn es erst mal in einem drinsteckt, ist das gar nicht so schlimm. Dann braucht man nur noch
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