Stumme Angst (German Edition)
flehte ich und stellte mich vor Vater. »Was wollt ihr?«
»Ist der Jud hier?«, bellte Heinrich, sein Blick entschlossen.
»Der ist abgeholt worden«, sagte Vater, hielt mich umarmt.
»Eben nicht!«, kläffte Arnold. »Der ist abgehauen und weit kann er ja nicht sein.«
Vaters Brüllen: »Dann schaut euch doch um!« Heinrich machte den anderen ein Zeichen und sie verschwanden im Flur. Das Tagebuch – rutschte mein Herz in die Hose. Hatte ich es versteckt? Lag es verborgen im Badezimmer hinter der losen Kachel?
»Könnt froh sein, dass wir gekommen sind«, erklärte uns Heinrich. »Dass wir nicht gleich alles gemeldet haben!«
»Verschwindet«, zischte Papa. »Hier ist kein Jude.«
In ihren Augen funkelte es.
Arnold mit dem dünnen, albernen Schnurrbart.
Severin, der immer über seine eigenen Füße fällt.
Heinrich, der mich immer bloß anschauen mag.
»Das war’s fürs Erste«, sagte er.
Papa legte seine Hand auf meine Wange, lange lag sie dort. Bis wir uns voneinander lösten und die Dinge gerade rückten. Die Suppe stand noch auf dem Herd, die Schaukel wog sanft in der Dämmerung.
»Wir müssen hier weg. Die bringen uns noch um, Ida.«
»Und wohin. Wohin sollen wir?«
»Warum nicht zu meiner Schwester. Nach Heidelberg.«
»Nein, Papa. Du musst arbeiten. Wir brauchen einen Lebensunterhalt. Ich gehe fort. Ich gehe zu Eva in die Stadt. Mache eine Ausbildung zur Krankenschwester wie sie.«
»Und dein Studium?«
Er hielt wieder meine Hand, sein fremder, trauriger Blick.
»Das mache ich, wenn der Krieg vorbei ist.«
Er kam in derselben Nacht. Ich sah ihn, wie er aus dem Schutz der Bäume trat. Wie sich seine zitternde Gestalt aus den Schatten der Tannen herauslöste.
Er war so müde, konnte kaum sprechen. Er trank einen Krug Wasser, schlang Brot hinunter, etwas von der Suppe rann ihm das Kinn hinab. Er war so gierig, er konnte nicht mehr.
In den Wäldern wäre er gewesen, sagte er und zitterte vor Kälte. Ich brachte ihn in mein Bett, zog ihm die Kleider aus. Er war eiskalt und eingeschlafen, bevor ich ihn gewaschen hatte.
Vater weckte ich nicht und ließ Jakob, wo er war, lauschte seinem Atmen, legte den Arm um seinen Bauch. Heinrich und die anderen waren gerade erst hier gewesen. So schnell würden sie nicht wieder kommen.
Mit den ersten Geräuschen des Morgens stand ich auf. Vater saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt.
»Ich bleib heute hier«, schlug er vor.
»Besser nicht, Papa. Die sind eh in der Schule. Außerdem musst du da hingehen und sagen, dass ich nicht mehr komme. Sag, das Mädchen will Krankenschwester werden. Dem Vaterland könne sie so besser dienen. Das werden sie gutheißen.«
Er nickte kraftlos, im Flur half ich ihm in die Stiefel.
»Pass auf dich auf, Mädchen.«
Ich küsste ihn auf die Wange und Jakob auf den Mund.
Wie dicht seine Wimpern sind. Er hatte nichts an, seine Hände verfingen sich in meinen Haaren.
Jetzt ist er fort. Gegen Mittag ist er gegangen, hat sich weggeschlichen, als ich im Keller war, ein Glas Eingemachtes holen. Der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, war plötzlich leer, die Stille im Haus greifbar gewesen. Mit dem Glas in der Hand sank ich am Tisch zusammen, mein Magen verkrampfte sich.
Natürlich wollte ich, dass er bleibt. Ich könnte ihn im Keller verstecken, im Gartenhäuschen. Papa könnte einen Keller unter den Keller bauen.
6. November 1941
Eine ganze Nacht war er draußen in der Kälte. Im Wald, ohne Decke, ohne alles. Ich versuche mir vorzustellen, wie das ist. Irgendwann wird man sich hinhocken, den Rücken gegen einen Baumstamm drücken. Wird die letzten Blätter fallen sehen, sich vielleicht unter dem Laub verstecken. Ein bisschen Wärme können sie spenden, das Moos, die Zweige.
Ich bin sicher, in den Wäldern ist es gefährlicher. In den Wäldern werden sie nach ihm suchen. Ob sie noch mal hierherkommen, weiß ich nicht.
»Wir könnten ein Versteck bauen«, versuchte ich es. »Falls Jakob wiederkommt.«
Papa sagte nichts, streichelte meinen Arm. Erzählte mir stattdessen von meinem Lehrer, Herrn Klaus. Wie enttäuscht er gewesen ist. Ich wäre so begabt, hat er immer wieder gesagt. Ich sollte nicht so schnell aufgeben.
Ich schreibe einen Brief an Eva, in dem ich frage, ob es noch einen freien Platz gäbe in der Schwesternschule. Hilf mir, Eva. Hilf mir!
Ich halte den Brief in meinen Händen. Sobald ich ihn abschicke, ist es zu spät. Wer soll sich dann um Jakob kümmern?
Ich könnte bleiben. Doch was wird dann
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