Stumme Angst (German Edition)
Gartens. Auf die verrostete Schubkarre, die noch auf dem Weg steht, randvoll mit Erde, ihr Reifen ist platt. Kräftige Grasbüschel sind längst in ihr gewachsen. Doch inzwischen sind sie in den heißen Sommertagen verdorrt, genau wie die Rasenfläche, die sich in ein dschungelartiges Unkrautfeld verwandelt hat. Natans Nachbarn, die so akribisch Ordnung halten, werden sich freuen.
Liam fragt sich, welche Gartenarbeit Natan wohl gemeint hat – hier sieht es jedenfalls nicht so aus, als wäre in den letzten Wochen auch nur ein Handgriff erledigt worden. Aber die Kratzspuren an seinen Händen können von allem Möglichen stammen.
Liam blickt in die Kellerschächte: Laub hat sich in ihnen gesammelt, Spinnweben, die schwarz und nutzlos herunterhängen. Die Fenster in den Schächten: zwei dunkle schwarze Löcher, in denen er nichts zu erkennen vermag. Aus denen nichts zu ihm nach oben dringt, selbst für den Hund nicht, der dasteht und sich zu langweilen beginnt.
»Hast recht«, sagt Liam leise. »Was soll das auch hier?«
Zu Hause ruft er als Erstes im Präsidium an und ist enttäuscht, bloß den jungen Kommissar am Apparat zu haben. Der auch noch kurzangebunden ist; sie hätten ein Problem, berichtet er, seit gestern Abend gäbe es ein vermisstes Kind.
Aha, denkt Liam. Und das zählt mehr als eine Achtzehnjährige?
Ob sie Anna deshalb nicht weiter bearbeiten würden?
Das genervte Aufatmen im Hörer.
»Natürlich nicht, Herr Lorenz. Nur so eine Sechsjährige, die erfordert erst mal alle Kapazitäten. Woll’n wir mal das Beste hoffen. Für die Kleine und Ihre Freundin.«
»Ich habe noch eine Telefonnummer für Sie«, meint Liam. »Da ist noch ein Name auf Annas Liste. Natan. Mit Nachnamen heißt er Mayer, ist Fotograf, lebt hier in der Stadt.«
Der Kommissar notiert sich die Nummer, verspricht, sich darum zu kümmern.
»Ach übrigens«, sagt Liam. »Das mit Ihren 80 %. Dass die meisten Leute nach einer Woche wieder auftauchen. Das scheint bei Anna nicht zuzutreffen.«
Marie ruft an, ihre Stimme klingt zittrig. Wie es gewesen wäre mit Natan?
»Wusstest du«, fragt Liam, »dass er auch Waise ist?«
Am anderen Ende der Leitung bleibt es still.
»Vielleicht ist das der Grund«, fährt er fort, »weswegen sie zusammen waren. Denn darüber hinaus ist es schwer, irgendwas Besonderes an Natan auszumachen. Bei Torben ist das anders. Der wirkt immerhin wie einer, mit dem man Spaß haben kann. Aber Natan lebt so zurückgezogen in einem Haus, das einsam wirkt.«
»Seltsam«, ist alles, was sie dazu sagt.
Seltsam ist auch, dass sie anruft, aber nichts zu sagen weiß. Nicht mal Komm . Keine aufmunternden Worte, wie er es sonst von ihr gewohnt ist.
Seltsam war sie auch gestern in ihrer Wohnung. Auf ihren Lippen, da fehlte der übliche Lippenstift. Doch auf dem vorderen Schneidezahn, da klebte noch ein kleiner Rest. Als hätte sie erst welchen aufgetragen, später dann aber weggewischt.
Der Rest des Tages zerfließt. Zu Schemen, zu etwas, das er nicht zu halten vermag. Liam kauert auf dem Boden und tastet nach Konturen.
Andreas: Den könnte er noch beobachten. Doch etwas hält ihn auf den Boden gedrückt. Matt, so fühlt er sich. Wie jemand, der bloß noch schlafen will. Der vergessen will, sich nicht vorstellen will, wo sie sein könnte, in welchem Haus, in welchem Keller. Irgendwelche Hände. Die ihren Körper erkunden könnten. Die Tränen auf deinem Gesicht.
Hände, schreibt er auf ein Post-it, klebt es neben sich auf den Dielenboden. Eine Flasche Bier steht daneben: das erste Stillleben an diesem Abend. Hände mit Kratzspuren. Als ob es immer so einfach wäre.
Er wünscht, sie wäre tatsächlich in Holland. Am Strand, in ihrem roten Bikini. Die alte Schulfreundin, die der Kommissar erwähnte, gäbe es wirklich. Sie könnte dort in der Sonne liegen; Himbeerbier gibt es in Holland, oder war es in Belgien? Wegen ihm auch Belgien. Himbeerbier und Pommes Frites. Die gut schmecken, in jedem Strandlokal kann man sie kaufen. Dann wäre alles gut, Anna.
Samstag, Tag 9, Anna
A nna.«
Seine Stimme zerschneidet die Stille.
»Anna. Wann wachst du endlich auf?«
Seine Hände liegen auf meinem Gesicht, meinem Nacken, die verklebten Haare streicht er mir daraus fort.
Ich erinnere mich an seine ersten Worte in diesem Zimmer: »Anna, mach die Augen auf.«
Was sagte ich darauf? »Ich habe Angst. Ich hab solche Angst.«
Angst hab ich keine mehr. Will nur noch, dass er weggeht, der Schmerz im Kopf, dass er verrinnt,
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