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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Stein
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versickert.
    Etwas Nasses streicht über mein Gesicht: ein Waschlappen.
    »Du solltest mal duschen. Mann, stinkst du!«
    Ob er mich vergräbt? Hinter dem Komposthaufen, wo Heinrich verscharrt ist? Ich möchte nicht dort liegen, nicht bei ihm. Wer will so einem Menschen schon Gesellschaft leisten?
    Ich stelle mir vor, dass Ida mich sieht. Dass etwas von ihr noch in diesem Zimmer wohnt. Gibt es keinen Ausweg, Ida?
    »Himmel. Willste nicht endlich mal duschen?«
    »Lass mich noch ein kleines bisschen schlafen.«
    »Es ist schon nach eins! Wie lange willste noch warten?«
    Etwas hat sich verändert. Die Luft riecht nach Regen, nach schweren Tropfen, die jeden Moment zu fallen beginnen könnten. Ich kann ihn schon hören, den Donner. Ein fernes Brodeln, nicht von dieser Welt. Ich stelle mir das Weizenfeld vor. Der Bauer hätte die Ähren einholen sollen, nun ist es zu spät und der Regen wird sie platt drücken.
    Natan will mich hochzerren. Mich in die Dusche tragen, damit ich nicht mehr so rieche. Es macht keinen Spaß, sich auf mich zu legen, wenn der Geruch so penetrant ist.
    »Ich sterbe. Wenn du mich bewegst, dann sterb ich.«
    Er hält inne, seine Hände tauchen unter in der Dunkelheit. Erst jetzt wird es hell – denn ich öffne die Augen. Das eine, geschwollene, nur zur Hälfte; ich sehe ihn da stehen, es ist, als umgebe ihn ein undurchsichtiger Schleier. Seine Arme hängen hinab, hinter ihm das Fenster, das dunkel wirkt, ein grauer Schlund, der ihn fortsaugen sollte. Doch es sind bloß die Wolken, die satt am Himmel hängen. Wolken und Krähen, die wieder in den Tannen hocken. Ob sie gekommen sind, um mich zu holen?
    »Du stirbst nicht, Anna. Ich entscheide, wer stirbt.«
    Irgendwann setzt der Wind ein. Streift die Tanne, die Krähen, das Zimmer.
    Er setzt sich zu mir an die Bettkante, greift nach meiner Hand. Seine Stimme ist leise. Doch er spricht mit einer Bestimmtheit, als hätte er sich darauf vorbereitet.
    »Meine Eltern. Du hast keine Ahnung, wie es mit ihnen war. Ich konnte das nicht mehr aushalten, Anna!«
    Er weint. Seine Stimme klingt zittrig, und ich weiß: Er will mir was sagen. Und sobald er das getan hat, ist es vorbei.
    »Schon gut«, flüstere ich, streiche ihm über die Hand, will ihn aufhalten.
    Seine Stirn liegt auf meiner Brust, er weint, schüttelt den Kopf.
    »Ich hätte auch nicht gedacht, dass es funktioniert. Dass es so einfach ist. Ich hatte jahrelang ein Mofa. Hab ich dir davon erzählt? So ’n richtiges Asi-Mofa. Hab ich für 50 Euro meinem Nachbarn abgekauft und ewig dran rumgewerkelt. Bis es irgendwann wieder fuhr. Deswegen kenne ich mich mit Motoren ein bisschen aus.«
    »Es ist okay, Natan. Ist okay. Leg deinen Kopf hierhin.«
    »Nein! Ich will, dass du das noch hörst!«
    Da ist es, das Wort. Noch. Es ist nicht der Winter, der kommen muss, nicht wahr, Natan? Du entscheidest, wer stirbt. Wann ich sterbe.
    Ob du gestern schon geahnt hast, dass ich recht habe? Ob du gesehen hast, wie meine Kopfwunde anschwillt, ob du gesehen hast, dass dies alles keinen Sinn mehr ergibt?
    Vielleicht hast du das Loch ja schon ausgehoben hinter dem Haus. Ob du überhaupt weißt, wo der Komposthaufen war, damals im Jahr 1945? Ob ich draußen im Regen duschen soll?
    Die Erde. Der Regen wird sie aufweichen, Schlamm auf meine Haut spritzen. Und die Krähen. In den Bäumen werden sie hocken, zuschauen. Stumme Wächter über mein Grab.
    »Weißt du, die Polizei. Die kam erst gar nicht auf die Idee, sich den Motor mal genau anzuschauen. Der war ja total verschrottet, Frontalzusammenstoß mit dem Auto deiner Eltern. Das macht einmal BÄNG und dann biste gleich tot! Auf ’ner glatten Fahrbahn im Winter schaut keiner mehr nach durchgeschnittenen Bremsschläuchen. Da ist eh alles am Arsch!«
    Jetzt weine ich doch. Genau wie er, seine Tränen vermischen sich mit meinen. Ich will sie fortwischen, genau wie ihn, ausradieren will ich ihn, sein Gesicht aus meinem Gedächtnis streichen.
    Ich höre, wie die ersten Tropfen fallen. Selbst, dass sie schwer sind, groß und schwer, das kann ich hören. Doch da ist noch was anderes. Etwas, das quietscht, oder knarzt, jedenfalls nicht zu den üblichen Geräuschen des Hauses gehört. Etwas, das fremd ist, sich nicht einordnen lässt. Das ich nicht wahrgenommen hätte, hätte sein Körper sich nicht verhärtet. Ich öffne die Augen und wünschte, ich hätte noch einen Wunsch frei.
    Das Messer. Ich wünsche mir, es würde nicht gleich neben uns liegen. Natan bräuchte nicht

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