Stumme Zeugen
schlug es auf, doch der Name, nach dem er suchte, stand nicht darin. Anschließend schlug er bei Singer, Newkirk, Gonzales und Swann nach, ebenfalls ohne Erfolg. Während er blätterte, sah er an einem blinkenden Lämpchen seines Handys, dass eine Nachricht eingegangen war. Donna? Celeste? Oder schon Newkirk?
Die Nachricht war vor einer Stunde auf die Mailbox gesprochen worden, als er mit Celeste telefoniert hatte.
»Guten Tag, Mr Villatoro, hier ist Jess Rawlins. Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat, aber vielleicht sollten Sie zusätzlich den Namen eines weiteren ehemaligen Polizisten überprüfen: Tony Rodale. Ich buchstabiere, R-O-D-A-L-E. Seine Frau hat im Büro des Sheriffs angerufen und ihn als vermisst gemeldet. Ich habe eine Adresse.«
Sonntag, 12.59 Uhr
Mit Jess Rawlins’ altmodischem Fernseher ließen sich nur drei Programme empfangen, davon nur eines in guter Qualität. Auf einem Betonsockel vor dem Haus war eine ebenfalls schon ältere Satellitenschüssel installiert, und auf dem Fernseher stand ein elektronischer Receiver. William mühte sich mit der klobigen Fernbedienung ab, um die über Satellit ausgestrahlten Sender hereinzubekommen. Er wollte Zeichentrickfilme sehen.
»Das Ding macht mich noch verrückt«, sagte er, während er hektisch etliche Knöpfe nacheinander ausprobierte. »Wie kann der alte Knabe so leben? Ohne anständige Programme? Ich krieg nicht mal Nickelodeon rein.«
»Versuch’s weiter«, sagte Annie. »Irgendwann hast du’s raus.«
»Ich frage mich, ob die Kabel von der Schüssel da draußen richtig angeschlossen sind. Vielleicht ist das das Problem.«
»Du bleibst im Haus. Du hast gehört, was er gesagt hat, bevor er weggefahren ist. Wir sollen die Vorhänge zugezogen und das Licht ausgeschaltet lassen. Und nicht nach draußen gehen.«
William zog eine Grimasse. »Wenn ich das mit dem Fernseher nicht geregelt kriege, gehe ich raus.«
»Du bleibst schön hier.«
»Du bleibst schön hier«, äffte er sie nach.
Sie nahm ihm die Fernbedienung aus der Hand und schaute sie sich an. Es gab einen Knopf mit der Aufschrift sat, und sie drückte ihn. Der Schnee auf dem Bildschirm verschwand, und es erschien eine spanische Soap.
»Wie hast du das gemacht?«, schrie William. »Gib das Ding her!«
Sie reichte ihm die Fernbedienung, und er probierte die Kanäle durch. »Er ist doch nicht ganz so altmodisch, wie ich gedacht habe.«
Annie stand auf und ging in die Küche. Bevor Mr Rawlins gefahren war, hatte er alle Türen und Fenster fest verschlossen und gesagt, sie dürften sie erst öffnen, wenn sie ganz sicher seien, dass er wieder da sei. Annie war überrascht; es war das erste Mal, dass er die Haustür abgeschlossen hatte. Er musste das Schloss erst einsprühen, damit der Riegel wieder funktionierte.
Sie studierte den Inhalt der Küchenschränke und der Tiefkühltruhe. Cracker, Gewürze, Haferbrei, Tee und Kaffee in den Schränken, tiefgeforenes Rindergehacktes und Steaks in der Truhe. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viele Dosen mit Chili gesehen. Mr Rawlins hatte gesagt, er würde in der Stadt einkaufen, und gefragt, was sie und ihr Bruder
gern essen würden. Annie hatte einen Einkaufszettel geschrieben, und er hatte ihn lächelnd überflogen und in die Tasche seines Hemdes gesteckt.
»Wann werden Sie wieder da sein?«, hatte sie gefragt.
»Wahrscheinlich am frühen Nachmittag. Und denkt daran, die Türen verschlossen zu halten und alles ausgeschaltet zu lassen.«
»Das sagen Sie schon zum dritten Mal.«
»Hoffentlich ist es einmal hängen geblieben.«
»Schau dir das an, Annie!«, schrie William.
Er hatte Fox News laufen, und auf dem Bildschirm war das Foto eines Mannes zu sehen. Er sah so schlimm aus, dass Annie ihn kaum erkannte.
»Warum ist Tom im Fernsehen?«, fragte William, der den Knopf für die Lautstärke suchte. »Und wir?« Soeben waren Bilder von ihm und seiner Schwester eingeblendet worden, direkt über dem Schriftzug GROSSFAHNDUNG.
Annie hatte mehrfach darüber nachgedacht, ihre Mutter anzurufen. Einmal hatte sie den Hörer schon in der Hand gehalten, bevor sie es sich anders überlegte. Jetzt, wo ihr und Williams Foto im Fernsehen gezeigt wurde, überlegte sie erneut.
Was sollte falsch daran sein, wenn sie anrief? »Es geht uns gut, wir lieben dich, Mum«, würde sie sagen und die Stimme ihrer Mutter hören. Aber Mr Rawlins hatte gesagt, Swann sei bei ihr, und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er ans Telefon gehen
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