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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
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saßen nur Angloamerikaner in der Maschine. Diese Erfahrung war neu für ihn, und er wusste nicht, was er davon halten sollte. Ein Großteil
seines beruflichen Erfolgs hatte darauf beruht, dass er als Latino nie aufgefallen war. Dadurch war er in der Lage, die Menschen in seiner Umgebung und ihre Lebenssituation zu studieren, ohne selbst beobachtet zu werden. Dort, wo er herkam, wäre niemand auf die Idee gekommen, eine exotische oder sonst wie auffällige Erscheinung in ihm zu sehen. Es konnte durchaus ein bisschen kompliziert werden, sich in diese ganz von Weißen dominierte Welt zu integrieren.
    Er hob den Arm und schob die Manschette zurück, um einen Blick auf seine neue goldene Uhr zu werfen. Es war angenehm, nicht die Zeit umstellen zu müssen, denn auch in Spokane galt die Pacific Time. Noch kannte er sich mit der Uhr nicht richtig aus. Es gab mehrere kleine Knöpfe, und er vermutete, dass er eine Kombination von ihnen drücken musste, um die Zeit, das Datum, den Weckmodus oder eine der anderen Funktionen einzustellen. Nachts sei das Zifferblatt beleuchtet, hatte jemand gesagt. Unglücklicherweise hatte er die Bedienungsanleitung für die Uhr in der Verpackung gelassen, nachdem er sie herausgenommen und zur Freude seiner ehemaligen Kollegen sofort angelegt hatte, was diese mit Beifall quittierten. Sie hatten Geld gespendet für dieses Abschiedsgeschenk, und Celeste, seine langjährige Mitarbeiterin, hatte bei einem Juwelier etwas in den Boden eingravieren lassen:
     
    Für 30 Dienstjahre
     
    Während er an einer der drei Gepäckausgaben des Flughafens auf seine beiden Taschen wartete, beobachtete Villatoro
aufmerksam die Menschen in seiner Umgebung. Familien wurden von Verwandten abgeholt, die sie lautstark begrüßten, und er sah einen Soldaten in Wüstenuniform, der aus dem Irak zurückkehrte und von etlichen Familienangehörigen mit Luftballons und handbeschrifteten Postern empfangen wurde. Villatoro nickte ihm zu und sagte: »Danke für alles, was Sie für uns getan haben.« Der Soldat, ein Marine, nickte zurück.
    Hätte man Villatoro aufgefordert, die ihn umgebenden Einheimischen zu charakterisieren, hätte er gesagt, sie seien geradeheraus und ungehobelt, vielleicht sogar gefühllos. Ihm fiel auf, wie viele Männer Cowboyhüte, Gürtel mit protzigen Schnallen und spitze Stiefel trugen. Das wirkte nicht wie ein Kostüm, sondern ganz so, als wären diese Outfits wie für sie geschaffen. Frauen und Kinder trugen grelle Farben und rissen die Mäuler weit auf, wenn sie palaverten. Ob sie andere damit belästigten, schien ihnen egal zu sein.
    Nachdem er seine beiden Taschen in Empfang genommen hatte, ging er zur Filiale des Autoverleihers, wo ihn ein junger Mann mit Schlips und Kragen und Pomade im Haar darauf hinwies, die Firma könne ihm für nur fünf Dollar Aufpreis pro Tag statt eines Kleinwagens ein Mittelklassemodell zur Verfügung stellen.
    »Nein, vielen Dank.«
    »Aber es sieht so aus, als wären Sie für eine Woche in der Gegend«, sagte der junge Mann mit einem Blick auf den Computermonitor. »Da ist ein größeres Auto bestimmt komfortabler. Ich bin sicher, Ihre Firma wird Verständnis dafür haben.«

    »Nein«, sagte Villatoro. »Außerdem gibt es keine Firma. Ich bin seit zwei Tagen im Ruhestand. Den Kleinwagen, bitte.«
    Der Angestellte wirkte beleidigt. Hinter ihm an der Wand sah Villatoro eine Tafel, auf der darüber Buch geführt wurde, welcher Mitarbeiter wie oft das größere Modell an den Mann gebracht hatte. Laut Namensschild hieß sein Gegenüber Jason, und er war der Spitzenreiter.
    »Arcadia, Kalifornien«, murmelte Jason, als er Villatoros Adresse in den Computer eingab. »Nie gehört.«
    »Eine Kleinstadt«, sagte Villatoro. »Ungefähr fünfzigtausend Einwohner.«
    »In der Nähe von Los Angeles?«
    Villatoro lächelte traurig. »L. A. hat die Stadt geschluckt wie ein gefräßiges Monster.«
    Der Angestellte wusste nicht, was er darauf antworten sollte, und Villatoro bereute, dass er es gesagt hatte. Es war besser, sich völlig bedeckt zu halten.
    »Sie würden nicht glauben, an wie viele Leute aus L. A. wir Autos vermieten.«
    »Tatsächlich?«
    »Sie ziehen haufenweise nach Idaho um.« Der Angestellte klickte auf einen Button, um Villatoros Vertrag auszudrucken. »Waren Sie schon mal hier?«
    »In Spokane?«
    Der Angestellte korrigierte seine Aussprache. »Man sagt ›Spoke-ann‹, Mr Villatoro, nicht ›Spoke-ain‹.«
    »Und es heißt ›Vija-toro‹, nicht

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