Stumme Zeugen
vermutlich aus dem Arbeitermilieu. Nachdem sie jahrelang in der übervölkerten Großstadt mit der Unterwelt und den dunkelsten
Schattenseiten der Zivilisation zu tun gehabt hatten, wollten sie in der freien Natur leben, draußen auf dem Land, wo sie für sich bleiben konnten. Besser Excops als Schauspieler oder Bonzen aus der Computerbranche, dachte er. Leute, die die Gegend umkrempeln, bis man sie nicht wiedererkennt. Es gab einige von ihnen in North Idaho. Zu viele für seinen Geschmack.
»Hunderte von Cops«, sagte sie. »Überall machen sie sich breit. Aber irgendwie fühlt man sich sicherer, finden Sie nicht?«
Jess schwieg.
»Trotzdem gefällt es mir nicht, wie einige von ihnen sich abschotten. Als wären sie was Besseres als wir. Warum kommen sie her, wenn sie für sich bleiben wollen? Dann hätten sie genauso gut woanders hinziehen können. Man sollte meinen, sie müssten kontaktfreudiger sein, viele von ihnen sind geschieden und so weiter. Ich meine, ich bin noch zu haben!« Sie drehte sich affektiert um die eigene Achse, und er zuckte innerlich zusammen. »Einer von den Cops könnte mich Ihnen wegschnappen, Jess Rawlins, wenn er sich die Mühe machen würde, sich umzuschauen …«
Jetzt reicht’s, dachte er. Seit er Karen gesehen hatte, war seine Stimmung ohnehin finster. Er hatte keine Lust, mit Fiona Pritzle zu plaudern. Trotzdem wollte er nicht unhöflich sein. »Ich sollte mich besser auf den Weg machen«, sagte er mit einem Blick auf seine Post, als könnte er es gar nicht abwarten, sie durchzusehen.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Rentenschecks und Rundschreiben vom LAPD ich mittlerweile zustellen muss«, begann sie erneut.
»Dann sollten Sie sich besser an die Arbeit machen«, bemerkte er jovial.
Sie wirkte, als hätte er sie geohrfeigt. »Ich wollte nur freundlich sein, wie es unter Nachbarn üblich ist. Aber vermutlich habe ich Sie in einer depressiven Phase erwischt, Jess.«
Er mochte es nicht, wenn sie seinen Vornamen benutzte, und hatte auch etwas dagegen, dass sie seine Post näher in Augenschein nahm. Für seinen Geschmack machte sie zu sehr auf vertraulich. Professionelle Distanz hätte ihm mehr zugesagt.
Ihre Hinterreifen ließen einige Kiesel zur Seite spritzen, als sie mit Vollgas davonfuhr. Soll ich meine Post in Zukunft nach Einbruch der Dunkelheit abholen?, fragte er sich.
Als er gerade auf die Straße einbog, die zu seiner Ranch führte, hörte er ein weiteres Fahrzeug näher kommen. Was das Verkehrsaufkommen betraf, hatte Fiona Pritzle recht. Er blickte über die Schulter und sah einen roten Pick-up. Hinter dem Steuer saß ein Mann, den er nicht kannte. Es sah so aus, als würde der Fahrer mit jemandem rechts neben sich reden, doch Jess sah weder einen anderen Insassen noch einen Hund. Er winkte dem Fahrer zu, doch der reagierte nicht. Die Zuzügler winkten nicht zurück.
Während er den Hügel hinab zu seiner Ranch ging, genoss er die Stille und das leise Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume. Schüsse hörte er nicht mehr.
Freitag, 16.45 Uhr
Eduardo Villatoro hatte einen Flug der Southwest Airlines gebucht, der von Los Angeles nach Spokane ging, mit einem Zwischenstopp in Boise. Er drückte die Nase an die Scheibe und sah unter sich Grün, so weit das Auge reichte, nur ab und zu durch nierenförmige Seen unterbrochen, in denen sich der Himmel und die schneebedeckten Gipfel der in der Ferne aufragenden Berge spiegelten. Die 737 verlor an Flughöhe. Nur einmal in seinem Leben hatte er so viel Grün gesehen, vor etlichen Jahren, als er nach El Salvador geflogen war, um seine Mutter zurückzubringen. Doch dort war es der Dschungel, hier nicht. Und in El Salvador gab es silbrige Straßen, die das endlose Grün durchzogen, und ein Meer, das es begrenzte. Hier erblickte er keine Straßen. Ihn ergriff ein Gefühl der Beklommenheit, das sich erst wieder löste, als er die geometrischen Formen von Äckern und Weiden sah und der Flugbegleiter die Passagiere aufforderte, die Klapptische aufrecht zu stellen und einrasten zu lassen.
Als er in Boise umsteigen musste, wurde ihm bewusst, dass außer ihm niemand einen Anzug trug. Seiner war braun und schon etwas älter, und er hatte im Flugzeug die Krawatte abgelegt, sorgfältig zusammengefaltet und in die Tasche gesteckt. Die anderen Passagiere, meistens junge Familien und Rentner, beachteten ihn nicht, aber es schien Absicht dahinterzustecken. Es dauerte eine Weile, bis ihm der Grund klar wurde. Außer ihm
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