Stumme Zeugen
auf und schaute nach draußen. Das Hotel
selbst war eher langweilig, der Blick hingegen spektakulär. Durch die Schiebetür trat man auf einen Rasen, direkt dahinter lagen ein kleiner Strand und ein Jachthafen. Der See war spiegelglatt, am anderen Ufer ragten die Berge mit den schneebedeckten Gipfeln auf. Die Sonne brach durch die Regenwolken. Die Aussicht war so großartig, dass es ihn nicht gewundert hätte, wenn ein Orchester mit einer Sinfonie eingesetzt hätte.
Er zog sein Handy aus der Tasche und schaltete es ein, was er nach der Landung des Flugzeugs vergessen hatte. Er hoffte auf eine SMS oder Voicemail von seiner Frau.
Kein Signal. Diese Möglichkeit hatte er nicht in Betracht gezogen. Enttäuscht warf er das Handy auf die Frisierkommode.
Das Hotelzimmer war nichts Besonderes. Ein Fernseher, zwei Betten mit fadenscheinigen Tagesdecken, ein Telefon auf dem Schreibtisch. Daneben das Telefonbuch, nicht dicker als ein Taschenbuch. An den Wänden verblichene Drucke mit Elchen, Rotwild und Gänsen.
Er setzte sich auf das zu weiche Bett und öffnete seine Aktentasche. Nachdem er das gerahmte Foto seiner Frau und seiner Tochter auf den Nachttisch gestellt hatte, zog er eine abgegriffene, sechs Zentimeter dicke Akte hervor und legte sie auf das Kopfkissen. Was sie enthielt, ließ sich dem fast unleserlichen Schild kaum noch entnehmen, doch er erinnerte sich, wie er es vor acht Jahren an seinem Schreibtisch eigenhändig beschriftet hatte.
SANTA ANITA RACETRACK
Aktenzeichen: 90813A
Diese Geschichte hatte ihn nach Kootenai Bay geführt, dies waren die unerledigten Geschäfte. Der Fall hatte seine Ehe, sein Familienleben und seine letzten Dienstjahre belastet. Die Akte stand gleichsam für die dunkle Wolke, die über ihm schwebte, die Sonne blockierte und ihn daran hinderte, ganz in den Ruhestand zu treten und ein neues Leben zu beginnen.
Eduardo Villatoro stand auf, trat an die Schiebetür und blickte auf den See und die Berge. Es war eine völlig andere Welt als jene, die er an diesem Morgen verlassen hatte, und er konnte sich nicht vorstellen, in ihr zu leben. Er sehnte sich nach seiner Marke und seiner Dienstwaffe zurück.
Freitag, 17.30 Uhr
»Eigentlich müssten sie mittlerweile wieder zu Hause sein«, sagte Monica Taylor zu Tom, der gerade aus dem Wohnzimmer gekommen war, wo er ein Basketballspiel gesehen hatte, dessen Ausgang Konsequenzen für die Besetzung der Playoffs haben konnte. Er trug seine braune UPS-Montur, das Hemd war nicht in die Shorts gesteckt. Aus ihnen schauten muskulöse, bereits gebräunte Beine hervor. Ihr wäre es lieber gewesen, er würde sie nicht rasieren, doch er hatte ihr erklärt, ein Bodybuilder müsse die Beine vor einem Wettbewerb rasieren, wachsen und ölen.
Tom blieb auf dem Weg zum Kühlschrank stehen und blickte auf die Digitaluhr des Herdes. Es war halb sechs abends. Er zuckte die Achseln und öffnete den Kühlschrank.
Seine Miene spiegelte ähnliche Beunruhigung wie ihre, doch hatte sie bei ihm einen anderen Grund. »Was, kein Bier?«, fragte er. »Muss ich welches holen?«
»In zwei Stunden ist es dunkel.« Sie wischte sich die Hände mit einem Papiertuch ab. »Vielleicht sollte ich herumtelefonieren.«
Der Tisch war für drei Personen gedeckt, und im Backofen stand eine Lasagne, Annies Lieblingsessen. In der Küche roch es nach Knoblauch, Oregano, Tomatensoße und Käse. Tom hatte bemerkt, sie müsse noch ein viertes Gedeck auflegen. »Nein«, hatte sie geantwortet. »Das werde ich nicht tun.«
Obwohl sie es hätte besser wissen müssen, hatte sie ihn hereingelassen, als er nach der Arbeit vor ihrer Tür stand und beteuerte, er sei gekommen, um sich zu entschuldigen, weil er am Morgen nicht rechtzeitig verschwunden sei. Nach dem Aufwachen habe er sich einfach nicht vorstellen können, sie allein zu lassen. Er versuchte, ihr zu schmeicheln.
Diese Kunst beherrschte er, und das war ein Teil des Problems. Auch wenn sie genau wusste, was sie von seinen Worten zu halten hatte, mochte sie es, wenn er ihr schmeichelte. Zum ersten Mal hatte sie von Tom gehört, nachdem sie die Stelle als Geschäftsführerin in dem Laden übernommen hatte. Die drei Kassiererinnen waren aufgeregt wie die Schulmädchen, als sie den Fahrer von UPS beschrieben. Wenn er nachmittags um halb vier vorfuhr, war das für sie der Höhepunkt des Tages. Bald erfuhr Monica den Grund. Er war groß und gut gebaut, charmant, gesprächig und Single. Wenn er Kartons durch die Hintertür schleppte,
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