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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
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seine Beine waren schwer. Jahrelang hatte nie er die Post geholt, sondern Herbert oder Margie, manchmal auch ein anderer Arbeiter der Ranch. Oder seine Frau. Karen ging gern zum Briefkasten. Später wurde ihm der Grund dafür klar.
    Um alles noch schlimmer zu machen, kam es ihm in letzter Zeit so vor, als würde er am Briefkasten ständig über Fiona Pritzle stolpern, die hier auf dem Land die Post ausfuhr. Für ihn war sie eine üble Klatschbase. Sie hatte die Neuigkeit unter die Leute gebracht, dass und für wen seine Frau ihn verlassen hatte. Fiona tat so, als wäre sie um seine Gesundheit und sein Wohlbefinden besorgt, doch tatsächlich ging es ihr nur darum, Neuigkeiten und andere Informationen aus ihm herauszuquetschen. Sie wollte wissen, ob er von seiner Exfrau gehört habe. Ob er schon wisse, dass sie wieder in die Stadt gezogen sei. Ob es stimme, dass die Ranch in wirtschaftlichen Schwierigkeiten sei. Als er jetzt einen Motor hörte, schlug er sich in die Büsche. Es hatte Zeiten gegeben, da auf der Straße nur sehr wenig los war und er jeden kannte, der sie benutzte.
    Tatsächlich hatte es auch eine Zeit gegeben, als jeder im Pend Oreille County Jess Rawlins kannte. Damals waren
die Sägewerke und Silberminen noch in Betrieb, und man suchte ständig Arbeitskräfte. Die Gegend war ein rauer, von der Welt abgeschnittener Landstrich. Die Menschen schienen unterjocht von den Bergen, dem harschen Klima, den tiefen Wäldern, der Isolation und der nur am Profit orientierten Unternehmen, welche die Rohstoffe plünderten und den guten Willen und die höfliche Arglosigkeit ihrer Arbeiter ausnutzten. Die raue Wildnis und die niederdrückende Atmosphäre hatten die Menschen im Griff und erstickten jede Initiative. Ausnahmen waren Menschen wie Jess, Familien wie die der Rawlins, die selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammte, es aber geschafft hatte, ein Geschäft aufzubauen, die Rawlins Ranch. Was etwas anderes war, als Rohstoffe auszubeuten und sie anderswo zu verkaufen. Sie erarbeiteten sich einen guten Ruf und erklommen die Leiter des Erfolgs und der gesellschaftlichen Anerkennung. Die Vorgesetzten der Sägewerke und Silberminen kamen aus Pennsylvania oder West Virginia und wurden von ihren Chefs nur nach Idaho geschickt, um dort ihre Zeit abzureißen und sich durch Rücksichtslosigkeit und Gewinnsucht für einen besseren Posten zu empfehlen. Demgegenüber hatten die Rawlins vor Ort ein traditionsreiches Familienunternehmen aufgebaut, von dem auch andere profitierten und das von allen respektiert wurde.
    Jess wuchs in dem Glauben auf, eine Art Held zu sein. Sein Vater und Großvater hatten ihm das Bewusstsein der eigenen Außergewöhnlichkeit eingeimpft. Zwar stamme er aus dem Volk und sei nicht besser als die anderen, trotzdem aber schon deshalb etwas Besonderes, weil er den Namen Rawlins trage. Dieser Ausnahmestatus war ihrer Meinung
nach durch harte Arbeit, bei allem Gewinnstreben ehrliches Geschäftsgebaren und hohe moralische Standards legitimiert.
    Der Erfolg der Rawlins Ranch war umso bewundernswerter, weil North Idaho kein idealer Landstrich für die Viehzucht war. Es gab zu viel Wälder und zu wenig Prärien und Weiden. Es regnete zu viel. Im Gegensatz zu den Besitzern der riesigen Ranches im Süden oder in den angrenzenden Bundesstaaten Montana, Wyoming und Oregon mussten die Rawlins das bewaldete Land für die Viehzucht nutzbar machen und den Betrieb pflegen wie eine launische Maschine. Sie konnten das Vieh nicht einfach monatelang allein irgendwo grasen lassen; die Tiere verirrten sich in den Wäldern. Also trieben sie das Vieh von einer Weide auf die andere, von einem Plateau zum nächsten, immer sorgfältig die Zahl der Tiere überprüfend. Der Regen und die Besonderheiten des Terrains machten sie für Krankheiten anfällig, weshalb der Bestand ständig beobachtet und stärker als üblich gepflegt werden musste. Jess’ Großvater hatte ein eigenes Verfahren entwickelt, wie die Kühe und Rinder gezählt, an die verschiedenen Weideplätze gebracht und inspiziert werden mussten. Er hatte vom Bundesstaat Washington Zuchtbullen gekauft, die ihrerseits für die Haltung auf nassen Böden und in schneereichen Gegenden gezüchtet worden waren. Die Qualität des Rindfleischs der Rawlins’ war weithin anerkannt, aber die wachsende Größe des Betriebs verdankte sich neben dem hohen Preis für das Produkt auch der wirtschaftlich umsichtigen Führung.
    Wie sein Vater und Großvater fühlte sich Jess gegenüber

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