Stumme Zeugen
vor dem Gespräch hatte er kaum geschlafen. Außerdem war gerade Kalbezeit, und jetzt war er ganz allein.
Ballard blickte zu Chile hinüber. Jess wusste, was er dachte, und es machte ihn wütend.
»Das Pferd habe ich dafür bekommen, dass ich einen Teil meines Besitzes als Weideland verpachte«, sagte er und bereute es sofort. Er musste sich nicht rechtfertigen. Bestimmt nicht vor diesem Mann.
»Oh.«
Jess wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Lexus. »Ich habe Karen auf dem Beifahrersitz gesehen. War es ihre Idee, dass Sie jetzt hier sind?«
Ballard drehte sich um, als müsste er sich vergewissern, dass Karen in seinem Auto saß, und es dauerte einen Augenblick, bis er sich wieder Jess zuwandte. »Wenn es Ihnen recht ist, lassen wir Karen aus dem Spiel. Nichts spricht dagegen, dass wir uns in dieser Sache wie Gentlemen verhalten.«
»Dagegen spricht einiges«, sagte Jess. »Warum steigen Sie nicht einfach wieder in Ihren Wagen und verschwinden von meiner Ranch?«
»Es gibt keinen Grund, warum wir so miteinander umgehen sollten«, sagte Ballard mit einem fast flehenden Blick, und für einen Moment tat er Jess leid.
Dann war der Moment vorbei. »Sie können auf dem gleichen Weg verschwinden, auf dem Sie gekommen sind«, sagte er. »Aber vergessen Sie nicht, das Tor zu schließen.«
Ballard spreizte die Hände. »Hören Sie. Alle Welt weiß, wie die Lage hier aussieht. Es ist ein Kampf, ein harter Existenzkampf. Sie mussten Herbert entlassen, und außer ihm sind auch alle anderen« - er suchte nach dem richtigen Wort - »verschwunden. Mittlerweile schicke ich Ihnen seit Monaten Angebote ins Haus, und Sie kennen meinen guten Ruf. Ich bin fair und in diesem Fall mehr als großzügig. Ich hatte gehofft, wir könnten die Gefühle beiseitelassen und uns von Mann zu Mann unterhalten.«
Jess spürte, wie ihm etwas die Brust zuschnürte. Er blickte auf seine Hand und sah, dass seine Finger ganz weiß waren, weil er die Longe so krampfhaft umklammerte, dass es wehtat. »Um ein Gespräch von Mann zu Mann zu führen braucht man zwei Männer. In Ihrem Fall kann von Mann keine Rede sein. Ich habe Sie jetzt zweimal gebeten, meine Ranch zu verlassen. Sollte ein drittes Mal erforderlich sein, tue ich es mit dem Gewehr in der Hand.«
Ballard öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, doch er brachte kein Wort hervor. Jess bedachte ihn mit einem wütenden Blick und trat einen Schritt vor, um Chile am Zaun festzubinden.
Ballard zuckte zusammen und nahm seinen Fuß von der Stange. »Ihre Drohungen sind überflüssig. Ich kann die Ranch von Ihnen kaufen oder nach einiger Zeit von der Bank.«
»Scheißkerl.«
Brian Ballard wich zurück und drehte sich um. »Sie machen
einen Fehler«, sagte er über die Schulter. »Ich habe Ihnen versichert, dass ich mich mehr als fair verhalten würde.«
Jess band Chile an und schaute Ballard nach, der zu seinem Lexus ging. Als er die Tür öffnete, sah Jess Karen, die sich Ballard zuwandte. Der Neigung ihres Kopfes glaubte er entnehmen zu können, was sie sagte, und dann hörte er Ballard: »Nein. Wenn du das willst, musst du es ihm schon selbst erzählen.«
Er setzte sich hinter das Steuer und wendete. Jess schaute dem Wagen noch eine Weile nach, als er den Hügel hinauffuhr. Es dauerte ein paar Minuten, bis seine Hände nicht mehr zitterten.
Er streichelte den kräftigen Hals der Stute. »Wir müssen dich satteln.«
Jess sah, wie der Lexus über dem Bergrücken verschwand, doch in dem von den Reifen aufgewirbelten Staub glaubte er noch Karens Gesicht zu erkennen.
Das war also Brian Ballard, der Mann, wegen dem sie ihn verlassen hatte. Der Mann, den sie nach der Scheidung geheiratet hatte.
Er hatte es einfach hingenommen, als sie seinerzeit gesagt hatte, sie werde ihn verlassen, sie habe sich weiterentwickelt. Er dagegen habe nicht nur nicht Schritt gehalten, sondern sich zurückentwickelt. Wenn sie weiter mit ihm auf der Ranch leben müsse, falle ihr die Decke auf den Kopf. Er müsse endlich damit fertig werden, was mit ihrem Sohn passiert sei. Er sei aus der Zeit gefallen, lebe in der Vergangenheit.
Was sollte man dagegen sagen?
Karen bekam ihre Ersparnisse und die Futtermittelhandlung in der Stadt, die sie sofort verkaufte. Außerdem wurden ihr der Lincoln und sein Pferd zugesprochen, die sie ebenfalls umgehend verhökerte.
Jess durfte die Ranch behalten.
Der Weg zum Briefkasten, der den Hügel hinauf und durch den Wald führte, erschien ihm länger als je zuvor,
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