Stunde der Klesh
Das interessierte Cretus überhaupt nicht. Meure jedoch fand die Architektur sehr interessant. Das Aussehen der Stadt wurde von ihren Türmen bestimmt. Sie ragten in außergewöhnlicher Vielzahl aus dem Häusermeer. Die Türme waren unterschiedlich hoch und hatten verschiedene Durchmesser, aber alle waren sie sehr schlank, und alle trugen sie an ihrer Spitze eine reichverzierte Kuppel. In luftiger Höhe waren an vielen Stellen Laufstege zu sehen, die einzelne Häuser miteinander verbanden. Für diese steinernen Bänder schienen die Gesetze der Schwerkraft nicht zu gelten, sie benötigten keine sichtbaren Stützen. Gestalten gingen auf diesen Stegen umher, aber sie waren so weit entfernt, daß Meure sie nicht genau erkennen konnte. Eigentlich konnte man ihre Art der Fortbewegung kaum als Gehen bezeichnen, es glich mehr einem Tanz auf dem Eis. Alle ihre Bewegungen waren von körperloser Leichtigkeit. Es war nicht zu entscheiden, ob es sich um Menschen handelte. Der Körperbau deutete auf menschliche Wesen hin, aber ihre Bewegungsweise sprach dagegen. Cretus schien dieser Widerspruch überhaupt nichts auszumachen.
Es war heller Tag in der Stadt. Es mußte gegen Mittag sein, denn die Sonne stand sehr hoch am Himmel über den Häusern. Man konnte sie von dem Fenster aus sehen. … Es war eine Einzelsonne. Das war es also, was Cretus so ungeheuer fremdartig an dieser Szene erschien. Vermutlich war dies eine der ersten Visionen, die er durch seinen Skazenach hatte: eine andere Welt, vermutlich auch eine andere Zeit. Zukunft, Vergangenheit? Wer mochte das entscheiden? Nun verstand Meure besser, wie Cretus alle seine Erinnerungen in seinem Gedächtnis geordnet hatte.
Sehr leise ließ sich jetzt auch wieder Cretus’ Stimme in seinem Inneren vernehmen: „Dies ist die Welt Erspa, ein Planet, der zu dem großen Magellan-Nebel gehört. Die Szene spielt vor ungefähr einhundert Millionen Jahren. Es war das erste Mal, daß es mir gelang, eine Welt zu sehen, die von denkenden Wesen bewohnt wurde, die weder Ler noch Menschen waren. Aber am meisten hat mich diese Sonne beeindruckt. Sie sah so unvollständig aus, so verloren … Seither habe ich viele Lebensformen gesehen, und einige waren wirklich verblüffend anzuschauen, aber nie mehr hat mich etwas so erregt wie der Anblick dieser Sonne.“
Die Stimme erlosch wieder. Meure hatte den Eindruck, mit einemmal einen viel besseren Zugang zu Cretus’ Erinnerungsschatz zu haben. Die einzelnen Bilder waren viel klarer, und sie hielten sich länger. Doch oft waren sie beinahe unerträglich fremdartig. Meure sah leere Welten im Schein von riesigen dunkelroten Sonnen, schon dem Untergang geweiht, bevor sie noch vollständig abgekühlt waren … Er sah Dinge, die flogen, und solche, die schwammen. Wesen, die sich rennend, in gewaltigen Sprüngen, kleinen Hüpfern oder überhaupt nicht fortbewegten. Nachdem er eine Unzahl solcher Szenen betrachtet hatte, erschien ihm der erste Klesh, beschienen vom Licht einer einzelnen Sonne. Nach einer solchen Erinnerung hatte er die ganze Zeit gesucht. Jetzt konzentrierte er sich darauf, dieser neuen Linie zu folgen.
Eine leise Stimme, die nicht Cretus gehörte, erzählte eine Geschichte. Meure verstand beim ersten Wort, worum es ging, und was er hörte, brachte ihn so sehr aus der Fassung, daß er um ein Haar die ganze Szene aus seinen Augen verloren hätte. Als er den Faden wieder aufnehmen konnte, war die Geschichte schon an einer anderen Stelle angelangt. Wegen der Dinge, die Meure nun hörte, war Flerdistar quer durch das Weltall gekommen; ihr ganzes Leben lang war sie den Spuren dieses Berichtes gefolgt. Die Szene war sehr klar und einfach. Sie rollte vor Meure genauso ab, wie Cretus sie zum erstenmal erlebt hatte. Alles wurde gesagt, keine Einzelheit verschwiegen. Besonders eigentümlich war die Handlungsform der Bilderfolge. Meure erlebte eine Person, die einer Zuhörerschaft eine wahre Geschichte erzählte. Zuerst dachte er, Cretus würde dieses Erlebnis in seiner Erinnerung so aufbereiten, daß es fast wie ein Lehrfilm wirkte. Aber so war es nicht. Auch Cretus war die Geschichte genauso erzählt worden, wie Meure sie jetzt seinem Gedächtnis entlockte. Nun kannte Meure das Geheimnis der Ler, und er verstand, wie es zu den Taten der Krieger und zu den Leiden der Klesh kommen konnte.
Er war so überrascht (denn es war, trotz einiger überraschender Einzelheiten, eine sehr einfache Geschichte), daß er laut sagte: „Das ist es also, um das sich
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