Stunde der Klesh
alles dreht.“
Flerdistars Kopf ruckte hoch, fast wäre ihr das schwere Ruder über Bord gefallen. Sie fragte: „Was hast du gesagt?“
In Meures Kopf klangen noch die Echos der überraschenden Worte, flackerten die Nachbilder aus Cretus des Schreibers Gedächtnis. Ihm war, als habe das Ler-Mädchen ihn aus einem tiefen Schlaf aufgeweckt.
„Ach, es war nichts“, antwortete er, „überhaupt nichts.“ Und das war die Wahrheit. Es war wirklich fast nichts, wenn man es mit all den Taten, Plänen und Vorbereitungen verglich. Fast nichts! Aber die Folgen dieser einen Tat liefen noch immer durch die Zeit, wie Wellen über einen See. Meure fühlte sich zutiefst verunsichert. Aus den Erinnerungen von Cretus hatte er etwas erfahren, dem nichts von alledem standhielt, was er bisher im Leben über Ursache und Wirkung und die Bewertung von Taten gelernt hatte. Das ganze ihm vertraute Weltall drehte sich um eine neue Achse. Durch die neuen Informationen, die er gewonnen hatte, wurde Meures Weltbild in seinen Grundfesten in Frage gestellt; sein gesamtes Wissen mußte sich neu orientieren, um sich diesen Erkenntnissen anzupassen. Er gab jede Gegenwehr gegen das, was da auf ihn einstürmte, auf. Er erkannte, daß er sich der Wahrheit stellen mußte, auch wenn nichts in seinem Universum seine Geltung behielt. Der Grundgedanke, der ihn durchdrang, war sehr einfach, doch in seinen Auswirkungen unabsehbar:
Alle denkenden Wesen sind unvollkommen und mit einem unvollständigen Wahrnehmungsapparat ausgerüstet. Ihre Sinne befähigen sie nicht, die Folgen ihrer Taten wirklich objektiv einzuschätzen. Sie bewerten ihre Taten nach Maßstäben, die sie für objektiv halten, die aber in Wirklichkeit fast nichts über die Wirkungen dieser Taten aussagen. So glauben sie, sie hätten eine ungeheuer wichtige Entscheidung getroffen, aber die Veränderungen, die diese Entscheidung in der Wirklichkeit bewirkt, ist beinahe gleich Null. Eine vergleichsweise unbedeutende Handlung dagegen kann Auswirkungen haben, die Zeit und Raum erschüttern. Im Grunde war die Theorie von Ursache und Wirkung durchaus zutreffend. Alles Geschehen ließ sich auf bestimmte Ursachen zurückführen, daran gab es keinen Zweifel. Es war jedoch so, daß alle denkenden Wesen dazu neigten, die Ursachen falsch zu bewerten, so daß es ihnen nur selten gelang, die tatsächlichen Auswirkungen ihrer Taten zu erkennen. Es gab Geschichten, in denen die Alten sich dieser Wahrheit sehr weit angenähert hatten: Der Tod eines einzigen Schmetterlings konnte in letzter Folge tatsächlich den Ausgang einer Wahl beeinflussen und so die Regierungsform verändern. Daß er auch das Aussterben von Millionen weiterer Schmetterlinge im Gefolge haben konnte, war in diesem Zusammenhang fast nur ein Nebeneffekt. Daß der Wind an einem Tage aus einer bestimmten Richtung blies, konnte den Lauf eines Weltreiches bestimmen. Ein gigantischer Wirtschaftskonzern, dessen Einfluß sich über mehrere Planetensysteme erstreckte, konnte über Nacht verlöschen wie eine Öllampe; Gläubiger und Konkurrenten konnten ihn verschlingen, nur weil ein kleiner Angestellter bei einer unbedeutenden Transaktion seine Zunge nicht im Zaume halten konnte.
Das alles hatte Cretus in seinem Skazenach gesehen. Diese Beispiele waren der Grund dafür, warum er sein Werk nicht vollendet hatte, kurz bevor das Ziel erreicht war. Was seine Gefolgsleute ihm rieten, war ihm gleich, und das Urteil der Historiker aller Planeten und aller Zeiten interessierte ihn nicht. Sie bewirkten gar nichts. Was für ihn zählte, waren Dinge, die im Augenblick unbedeutend erschienen: die Art, wie eine Dienerin ihren Besen ausschüttelte, die Art, wie sich ein Staatssekretär aus dem Fenster beugte, und Begebenheiten, die so unscheinbar waren, daß er sie nicht sehen, sondern nur erahnen konnte. Diese Beobachtungen in ihrer Gesamtheit waren es, die ihn bewogen, sich zurückzuziehen, um überhaupt etwas von seiner Idee zu retten. Er wußte, daß nicht nur diese Idee scheitern würde, wenn er weitermachte, sondern daß die Gegenseite sich mit erneuerter Kraft erheben würde. Wenn Cretus um jeden Preis an seinem Imperium festgehalten hätte, bis zu dessen bitterem Ende, dann wäre Monsalvat in einem solchen Maße von Stolz, Wut und Entfremdung ergriffen worden, daß am Ende keine Gesellschaftsform mehr möglich gewesen wäre. Es wäre das Ende der Klesh auf Monsalvat gewesen! Aber dadurch, daß er in jenem Moment freiwillig von der Bühne abtrat,
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