Stunde der Klesh
einst eine Ler-Rebellin. Von späteren Ereignissen ausgehend, nimmt man an, daß sie zeitlebens immer eine Rebellin geblieben ist. Es existiert jedoch auch die beunruhigende Überlieferung, wonach sie sich änderte. So entstehen viele Fragen. Warum, zum Beispiel, wurde die gesamte Rebellion mit ihrem Namen bezeichnet? Der Name dieser Rebellin war Sanjirmil. In Ihrer Sprache nennt man so ein plötzliches, natürliches Entflammen: Irrlicht, Elmsfeuer. Jene Ler, die sie begleiteten, degenerierten zu den Kriegern der Morgenröte, deren Zahl ständig schrumpfte und die schließlich ganz verschwanden. Es gab auch Menschen, die von diesen Kriegern gefangen, mißhandelt und versklavt wurden. Dann begannen die Krieger, aus ihnen eine Vielzahl reiner Archetypen zu züchten. Wir sind auf dem Weg nach Monsalvat, um mit einigen dieser Klesh zu sprechen, die das einzige Bindeglied zu jener Vergangenheit bilden.“
„Ja, gut“, warf Meure ein, „jeder hat von den Kriegern und ihren Klesh gehört. Aber die Zeit! Wieviel Zeit ist allein zwischen den Tagen Sanjirmils und dem Aufbruch der Klesh nach Monsalvat vergangen! Sie werden sich nicht an sie erinnern können. Sie war schon tot und hatte ihr Leben beendet, bevor noch die Krieger ihre ersten Zuchtversuche unternahmen. Und nach allem, was man hört, ist in der Zwischenzeit noch viel geschehen, seit sie auf Monsalvat leben. Ereignisse, die für sie schrecklich gewesen sein müssen. Sie werden Glück haben, wenn Sie überhaupt zusammenhängende Geschichten zu hören bekommen, und bestimmt werden diese nicht von Ereignissen handeln, die sich vor Tausenden von Jahren zugetragen haben.“
Sie sah Meure freundlich an. „Sie haben eine falsche Vorstellung von meiner Methode. Für den in meiner Kunst Unerfahrenen klingt das, was ich zu einem zusammenhängenden Ganzen verwebe, wie ein zufälliges Geräusch. Außerdem sind uns zwei Tatsachen bekannt. Dies ist Wissen, keine Spekulation. Sanjirmil setzte Kräfte frei, die zur Entstehung der Krieger und der Klesh führten und die beide Arten voneinander sowie von Ler und Menschen trennten. Die andere Tatsache ist die, daß sich all die gegenteiligen Geschichten, die besagen, daß Sanjirmil selbst ein Opfer und kein Täter war, zu einer gemeinsamen Quelle zurückverfolgen lassen: zu Monsalvat und den Klesh. Wo immer ich nachgeschlagen habe, der gemeinsame Ursprung, den ich und die anderen Abkömmlinge des Hauses der Historiker fanden, war immer Monsalvat. Dahinter stoßen wir auf einen Vorhang, den wir nicht durchdringen können. Darum muß unsere Antwort dort liegen, tief verborgen im kollektiven Gedächtnis und den alten Sagen dieser Menschen.“
„Warum hat man nicht jene Ler befragt, die die Krieger nach deren Umsiedlung betreuten?“ fragte Meure mißtrauisch. „Schließlich haben Sie die bewußte Erinnerung, über die wir nicht verfügen.“
Flerdistar schüttelte den Kopf. „Das hat nichts erbracht. Wir haben es anfangs versucht. Aber alles, was wir erfuhren, war, daß es über den Ursprung der Krieger ein Geheimnis gab, das nur eine kleine Zahl von ihnen kannte. Der Inhalt dieses Geheimnisses wurde nie einem der Ler enthüllt, die die überlebenden Krieger bewachten und betreuten. Wir sind prädestiniert dafür, Geheimnisse zu bewahren. Ich kann Ihnen versichern, daß es Krieger gab, die Selbstvergessen übten, das heißt bewußt ihre gesamte Erinnerung löschten, nur um ein Geheimnis nicht preiszugeben, das ihnen selbst fast völlig unverständlich geworden war. Das Wesen der Krieger stellte ein weiteres Problem dar. Sie waren keine echten Ler mehr, sie waren zu etwas anderem geworden, und Menschen waren sie auch nicht. Die Strahlung auf Morgenröte hatte sie nach und nach mit verhängnisvollen Mutationen des Erbguts belastet. Wir Ler sind für solche Strahlung sehr anfällig, wie Sie vielleicht wissen. So war also die Erinnerung der Krieger völlig unergiebig für uns; wären es Menschen gewesen, hätte sich in deren Sagen wenigstens noch eine unbewußte Erinnerung erhalten … Nein, die Krieger stellten eine Sackgasse dar. Also haben wir uns den Menschen zugewandt. Aber hier – ich habe es bereits gesagt – erhalten wir entweder die offizielle Version, der wir mißtrauen, oder werden auf Monsalvat verwiesen.“
„Warum ist das überhaupt so wichtig nach all den Jahrhunderten und Jahrtausenden?“ fragte Meure zutiefst erstaunt. „Was macht es für einen Unterschied, ob sie eine Rebellin war oder nicht? Es ist
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