Stunde der Vergeltung (German Edition)
krummen Dinger ich drehte, welche Banken ich ausraubte oder mit welchen Männern ich schlief. Es passierte einfach, wie in einem Videospiel. Ich war das Roboterbiest, das den Nervenkitzel suchte. Wenn mir langweilig war, beteiligte ich mich an dem Sturz eines Diktators oder stahl nur so zum Spaß zwanzig Millionen Euro. Aber so etwas verliert auf Dauer seinen Reiz. Am Ende habe ich mich dann wirklich gelangweilt. Nichts war mir mehr wichtig.«
»Und was ist dir jetzt wichtig?«
Sie überlegte. »Rachel. Meine Freunde. Meine Freiheit. Meine Privatsphäre. Und meine Arbeit. Meine Arbeit bedeutet mir sehr viel.«
»Der Schmuck? Seltsam, dass du dir ausgerechnet dieses Handwerk ausgesucht hast.«
»Eigentlich nicht. Mein Vater war Goldschmied. Ich ging bei ihm in die Lehre. Er war ein Künstler, und bei seinem Talent hätte er ein weltbekannter Designer werden können, aber er machte sich nichts aus Ruhm. Er liebte einfach nur sein Handwerk. Es kümmerte ihn noch nicht einmal, ob er bezahlt wurde. Das hat meine Mutter verrückt gemacht.« Die Erinnerung entlockte ihr ein Lächeln.
»Schönheit allein um der Schönheit willen?«, meinte Val sanft.
»Ich schätze ja.«
Er beugte sich über ihre ineinander verschlungenen Finger und drückte einen Kuss auf Tams Knöchel. »War deine Familie muslimisch?«
Tam zuckte die Achseln. »Es war eine Mischehe. Meine Mutter war eine aus der Ukraine stammende orthodoxe Christin. Sie war diejenige, der Religion wichtig war. Wir haben Ostern und Weihnachten gefeiert. Mein Vater verehrte nur die Schönheit. Und seine Frau. Er hat sie angebetet.«
Val küsste wieder ihre Hand und wartete auf mehr.
»Sie lernten sich in Paris kennen«, erzählte Tam weiter, aus Gründen, die sie selbst nicht verstand. »Er war ein Abenteurer, ein vagabundierender Rebell. Sie eine illegale Immigrantin, die in einer Kleiderfabrik arbeitete und davon träumte, irgendwann an der Sorbonne zu studieren. Er war zweiundzwanzig und sie neunzehn. Er war schön, sie war schön … «
»Das wundert mich nicht«, warf er ein.
»Sie haben sich Hals über Kopf verliebt«, fuhr Tam fort. »Dann kam ich zur Welt. Sie hatten kein Geld. Als mein Großvater schwer krank wurde, rief er meinen Vater nach Hause. Wir fuhren nach Zetrinja, um ihn zu besuchen, und haben den Ort nie wieder verlassen. Bis Drago Stengl, Oberst der JNA, und sein geheimes Todeskommando einmarschierten.«
Val drückte ihre Hand. Sie erwiderte die Geste.
»Es war grausamste Ironie«, flüsterte sie. »Mein Vater war der sanfteste Mensch, den ich kannte. In meiner gesamten Kindheit hat er kaum einmal die Stimme erhoben. Sie haben ihn exekutiert. Sie haben ihn einfach an die Wand gestellt und erschossen, weil er angeblich ein Paramilitär war. Kannst du das glauben? Mein Vater ein verdammter Paramilitär. Gott.«
Ihr Herz raste, und ihr drehte sich der Magen um, als sie auf das Öl auf ihrem Teller und die Schnipsel gehackter Petersilie starrte. Auf das rote, saftige Stück von Vals Steak. Ihr Blutdruck sank in den Keller.
Genug. Tam hatte ihm schon mehr erzählt als je zuvor einem anderen Menschen.
Sie entzog ihm ihre Hand und brach damit den Bann. »Ich möchte nicht mehr darüber reden«, sagte sie brüsk. »Lass uns wieder zur Tagesordnung übergehen. Weißt du, wo man hier in der Gegend anständige Schusswaffen bekommt? Es gefällt mir nicht, auf demselben Kontinent zu sein wie dieser Drecksack, ohne eine Waffe zu besitzen. Am besten gleich zwei oder drei.«
»Ich bin ganz deiner Meinung. Ein Freund von mir ist in Salerno und kümmert sich darum. Wir werden ihn morgen treffen.«
»Gut. Besorg mir eine 9-mm-Glock oder eine .357 SIG, mit einem ordentlichen Vorrat an Magazinen und Extrapatronen. Und ich will eine Ruger als Back-up. Außerdem ein Schulterholster, ein Knöchelholster und einen Hüftgurt, falls er einen auftreiben kann. Und ich brauche etwas Plastiksprengstoff für die Bomblets, nicht viel.«
Val nickte und trank von seinem Wein. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Mach das.« Ihre Unterhaltung über die Vergangenheit hatte Tam den letzten Rest Appetit verdorben. Sie schob ihren halbleeren Teller von sich. »Ich bin fertig.«
Schweigend spazierten sie zurück zum Hotel. Tam machte sich seelisch darauf gefasst, dass Janos wieder versuchen würde, ihre Hand zu halten. Sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie erleichtert oder enttäuscht war, als er es nicht tat.
Wieder im Zimmer, verlor sie keine Zeit, sondern
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