Stunde der Vergeltung (German Edition)
verdanke ich alle Imre.«
Dieses Mal war Tam diejenige, die das Schweigen nutzte, um sein Glas aufzufüllen, bevor sie ihm ein Stichwort lieferte, damit er fortfuhr. »Dein Freund? Der, den du … « Sie brach ab, weil sie das Ungeheuer nicht ins Spiel bringen wollte, und ließ Val den Faden wieder aufgreifen.
»Ja«, bestätigte er. »Der, den ich retten will. Er hat mich bei sich zu Hause aufgenommen. Che Cristo , er muss Nerven wie Drahtseile gehabt haben. Ich war ein ungebildeter, brutaler, diebischer, läuseverseuchter zwölfjähriger Strichjunge. Er gab mir zu essen, hat mir Musik vorgespielt und mich in seiner Wohnung schlafen lassen. Ich selbst würde niemals ein derartiges Risiko eingehen.«
»Er muss ein außergewöhnlicher Mensch sein.«
»Allerdings.« Ein gedankenverlorenes Lächeln huschte über Vals Gesicht. »Er brachte mir bei, meinen Verstand zu benutzen. Und er lehrte mich vieles über die Welt. Imre zeigte mir, dass mehr in mir steckte als nur … « Er machte eine Pause und schüttelte vehement den Kopf. »Dass ich noch etwas anderes konnte, als Taschen auszurauben, Zigaretten zu verticken, mit Drogen zu handeln … und auf der Rückbank eines Autos Schwänze zu lutschen.«
Tam war sprachlos. Dies war das erste Mal, dass er sich seine Verbitterung über seine Vergangenheit anmerken ließ, aber dieser eine Blick, den er ihr zugestand, deutete auf einen ganzen Ozean von Schmerzen hin. »Also war er der Grund, warum du nicht unter die Räder gekommen bist.«
»Ja.« Er starrte so konzentriert in sein Weinglas, als wäre es eine Kristallkugel. »Imre war mein sicherer Hafen. Er war … « Val verzog gequält das Gesicht und schaute auf seine Hände. Er schluckte.
Tam senkte den Blick, um ihm einen privaten Moment zu geben. Sie betrachtete die flackernde Kerzenflamme und wartete, bis er selbst das Schweigen brach.
»Es war mein Glück, dass ich Imre hatte.« Seine Stimme klang zögernd und unsicher, als müsste er sich selbst davon überzeugen. »Doch trotz all seiner Bemühungen schleife ich die Vergangenheit wie einen zehn Tonnen schweren Anker hinter mir her. Wenn er stirbt wegen mir … «
Und wegen mir , ging es Tam durch den Sinn, aber sie schob den Gedanken beiseite. Sie würde sich Imres Schicksal nicht auch noch aufbürden, sie hatte schon genug zu tragen.
»Ich weiß, was du mit dem Anker meinst.«
Vals Hand hatte mehrere Zentimeter von ihrer entfernt auf dem schneeweißen Tischtuch gelegen, aber nun glitt sie näher. Er berührte ihre Fingerspitze, und schon dieser winzige Kontakt jagte eine Schockwelle durch ihren gesamten Körper. Ohne Tams bewusstes Zutun fand ein Finger nach dem anderen sein Gegenüber, dann richteten sie sich auf, bis ihre Handflächen aneinanderlagen.
Die zarte Verbindung trieb Knospen und erblühte. Keiner von beiden bestätigte sie mit einem Wort oder einem Blick. Es war ein fragiles Wunder, das bei zu genauer Betrachtung beschämt das Gesicht abwenden würde.
»Und du?« Sein Blick war eine düstere Herausforderung. »Ich könnte dir dieselbe Frage stellen, nach allem, was ich über deine Vergangenheit weiß. Über Zetrinja. Warum bist du so, wie du bist?«
Sie lachte und antwortete ihm mit seinen eigenen Worten. »Was bin ich denn? Abgesehen von einer riesigen Nervensäge?«
Val ignorierte ihre Frotzelei. »Brillant, kreativ, vermögend, erfolgreich – und stark. Auch du bist nicht unter die Räder gekommen.«
Noch nicht , überlegte sie niedergeschlagen und musste an Novak, Luksch und Stengl denken. Sie verdrängte sie und sann über seine Frage nach, da er nach seiner unverblümten Offenheit eine ehrliche Antwort verdiente.
»Ich verdanke meine Stärke meiner früheren Vergangenheit«, erklärte sie. »Meiner Familie. Sie war nicht perfekt, aber … wunderbar. Ich wusste, dass ich etwas wert war, weil sie daran geglaubt hatten, auch wenn sie alle gestorben waren. Also klammerte ich mich daran fest. Und überlebte.«
Sie schauten sich nun überhaupt nicht mehr an. Es war zu viel. Val ließ die Finger an ihren entlanggleiten und hielt sie fest. Eine wohltuende Wärme erfüllte sie, eine außergewöhnliche, dezente Intimität.
»Du kannst dich glücklich schätzen.«
Verblüfft stellte Tam fest, dass er recht hatte. Alles war relativ. Sie hatte einst etwas Kostbares besessen. Etwas, das Val nie kennengelernt hatte.
»Was den Rest betrifft … « Sie schüttelte den Kopf. »Das war alles reiner Zufall. Ich scherte mich nicht darum, welche
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