Stunde der Vergeltung (German Edition)
Faszination, die er angesichts des verzerrten Gesichts des alten Mannes, seiner hilflosen Frustration und seiner vergeblichen Bemühungen zu kommunizieren empfunden hatte.
Es machte ihn beinahe nostalgisch. Der arme alte Großvater.
Es bestand kein Grund, einen weiteren Schuss zu riskieren. Der Schalldämpfer war mit jedem Mal ein bisschen weniger effektiv, zudem würde der bedauernswerte Greis ihn niemals beschreiben können. András steckte die Pistole in seine Jacke, beugte sich über den Mann und legte den Finger an die lächelnden Lippen.
»Schsch«, murmelte er. »Nicht ein Wort, okay? Es ist unser kleines Geheimnis.«
Augen und Mund des Mannes verzerrten sich noch stärker. Ein rotes Äderchen in seinem Auge schwoll immer stärker an. Sein Lidrand füllte sich mit Blut. Es floss über und rann über seine fahle Wange, wie bei einer Marienstatue, die wundersamerweise Blut weinte. Der Alte erlitt vor András’ Augen gerade einen weiteren katastrophalen Schlaganfall.
András konnte nicht anders, als über die Ironie zu lächeln. Es war einer dieser Tage. Er ritt auf einer meterhohen Welle des Todes. Wie belebend.
Ach, ja. Das erinnerte ihn an etwas. Grüner Bademantel. Details über Details.
Er schlich in Zimmer 14 hinüber. Der Grüne Bademantel schlief, genau wie seine zwei Mitpatienten. András nahm ein Kissen von dem unbenutzten Bett, drückte es dem Mann auf das Gesicht und zählte mit ruhiger, tödlicher Geduld, während seine Gedanken kreisten und eine Liste von Profis im Großraum Seattle zusammenstellten.
Er brauchte jemanden, der Tamara Steeles Tochter aufspüren und diskret entführen konnte. Der Boss würde sie haben wollen, wie ein verzogenes Balg Spielzeug und Schokolade wollte. Allerdings würde ihm nicht mehr viel Zeit zum Spielen vergönnt sein.
András würde derjenige sein, der ihm diesen Leckerbissen servieren würde.
Einige stille Augenblicke später schliefen die anderen Zimmerbewohner noch immer, nur beim grünen Bademantel war kein Puls mehr festzustellen.
Mit der Hand auf dem Griff der Pistole glitt er ein weiteres Mal schattengleich den Flur hinab. Er forderte das Schicksal heraus, jemanden aus der Schwesternstation heraustreten zu lassen und ihn zu zwingen, wieder und wieder zu schießen, um einen Haufen, nein, einen ganzen Berg blutüberströmter Leichen in seinem Kielwasser zurückzulassen.
Sobald er erst einmal auf dieser Welle ritt, gab es für ihn kein Halten mehr.
21
Harry Whelan erlebte einen stressigen Tag. Als stellvertretender Geschäftsführer das Huxley zu leiten, während gleichzeitig zwei Hochzeiten und ein Bankett stattfanden, kostete ihn den letzten Nerv. Und als Nancy, eine der Empfangsdamen, ihn bat, sich um einen Polizeibeamten zu kümmern, der Fragen zu einem Gast hatte, reagierte er unwirsch.
»Sagen Sie ihm, dass wir keine Informationen über unsere Gäste herausgeben«, blaffte er. »So sind nun mal die Sicherheitsbestimmungen des Huxley, wie Ihnen bestens bekannt sein dürfte.«
»Das habe ich ihm ja gesagt, aber er besteht darauf … «
»Hat er einen Durchsuchungsbefehl? Richten Sie ihm aus, er soll sich einen beschaffen.«
»Bitte, Harry. Das habe ich schon alles getan, aber er hört mir einfach nicht zu. Können Sie mit ihm reden? Ihnen wird er zuhören.«
Harry stöhnte, aber Nancy war so niedlich, mit ihren großen blauen Augen und der prallen Oberweite, über der sich ihre grüne Uniform weiter spannte, als professionell schicklich war. Tatsächlich spielte er mit dem Gedanken, gegen seine Kein-Flirt-bei-der-Arbeit-Regel zu verstoßen und sie um ein Date zu bitten. Er eilte den Flur hinunter zum Empfang, dabei nahm er eine geschäftsmäßige Haltung ein.
Ein stämmiger Mann mit Vollbart wartete an der Rezeption. Er begrüßte Harry mit einem Lächeln, das dieser nicht zu erwidern bereit war, wenn seine Zeit verschwendet wurde. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Der Mann reichte ihm die Hand, und Harry schüttelte sie. »Raymond Clive, FBI«, stellte er sich vor. »Sind Sie der Geschäftsführer, Mr Whelan?«
Auf seinem Namensschild stand eigentlich alles, dachte Harry. »Der stellvertretende Geschäftsführer«, klärte er ihn auf.
»Kann ich unter vier Augen mit Ihnen sprechen?«, fragte Clive.
»Ich sollte Ihnen gleich eingangs sagen, dass die Sicherheitspolitik des Huxley vorsieht, keine Informationen über unsere Gäste herauszugeben.«
»Bitte, Mr Whelan. Können wir uns irgendwo anders in Ruhe unterhalten?« Der Mann beugte sich
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