Stunde der Vergeltung (German Edition)
Schluchzend schnappte er nach Luft, dann änderte er den Winkel der Klinge, schnitt wieder. Dieses Mal konnte er den Schmerzensschrei nicht verhindern. Val stand am Rande einer Ohnmacht. Er tastete mit der Messerspitze umher, dabei flehte er seinen Blutdruck an, sich zu stabilisieren – und dann fühlte er es. Das leise Klicken von etwas nicht Organischem, etwas, das nicht Muskel, Sehne, Knorpelgewebe oder Knochen war.
Er bohrte die Finger in seine Schulter und ertastete das Ende des Objekts. Gleich darauf entglitt es seinen plumpen Fingerspitzen. Er brauchte eine Pinzette, er brauchte Licht. Er versuchte es wieder, indem er sein zerfetztes, misshandeltes Fleisch an der Stelle, wo er das Ding gefühlt hatte, von beiden Seiten zusammendrückte, um es aus seiner Schulter herauszuzwingen.
Es flutschte heraus und wäre um ein Haar in dem tintenschwarzen Wasser gelandet. Mit einer zitternden Hand griff Val in die Luft. Der Sender prallte viermal ab, dann fing er ihn zu seiner Überraschung doch noch auf.
Verzweifelt keuchend, wiegte er sich mehrere Minuten vor und zurück, ehe er sich überwinden konnte, die Augen zu öffnen und das Objekt zu untersuchen.
Es war eine kleine, blutige Kapsel, nicht größer als eine Tablette. Unglaublich winzig, aus Plastik oder Keramik. Einen Sekundenbruchteil rätselte er, woher sie ihre Energie bezog. Vielleicht aus seinem eigenen elektromagnetischen Kraftfeld. Er war nicht in der mentalen Verfassung, sich lange darüber zu wundern, weil er kurz davorstand, sich zu übergeben oder ohnmächtig zu werden. Sollte er das Bewusstsein verlieren, würde er ertrinken.
Es standen weitere Entscheidungen an. Er könnte das Ding hier ins Wasser werfen und fertig. Das würde die Suche zwar verzögern, sie jedoch nicht in eine andere Richtung lenken. Er musste Zeit gewinnen, und der Funksender war seine einzige Trumpfkarte.
Val steckte ihn ein.
Er hatte nichts, um die Wunde zu verbinden, aber da er sowieso noch durch die Kavernen schwimmen musste, zog er das Hemd und die Jacke wieder über seinen fröstelnden Oberkörper und hätte fast aufgeschrien, als der nasse, salzige Stoff über die Wunde rieb. Val konnte nur hoffen, dass das Salz helfen würde, sie zu desinfizieren. Taumelnd kämpfte er sich tiefer in die Höhle vor.
Es folgten gefühlte Stunden qualvollen Vorwärtstastens. Endlich bemerkte er durch puren Zufall den flackernden Lichtschimmer aus den größeren Kavernen, der von der anderen Seite der gigantischen Gesteinsformation hereinfiel. Val schwamm hinaus auf den See und sah sich plötzlich einem der Ausflugsboote gegenüber, die die Urlauber durch den malerischen Teil von La Grotta schipperten. Das Boot schaukelte vorbei. Eine Traube verblüffter Gesichter starrte zu ihm hinab, während die Fremdenführerin weiterschwadronierte: » … die Schmetterlingskammer, benannt nach der Form der Mineralbildung im Zentrum … «
»Sieh doch nur, Rhonda!«, rief ein dicker Mann mittleren Alters auf Englisch. »Und das im Januar! Das muss ein Deutscher oder ein Schwede sein.«
Die Reiseleiterin schaute über die Reling und schnappte nach Luft. » Ehi! Tu! «, schrie sie. »Das Schwimmen ist in La Grotta untersagt!«
Val brauchte mehrere Anläufe, um die Worte herauszubekommen, so stark zitterte er. »Va benissimo «, stotterte er. »Wirklich, signora . Ich wollte gerade gehen.«
Erleichtert erreichte er endlich die Felsen am Eingang und zog sich hoch. Er war kaum mehr in der Lage, sich zu rühren, aber er konnte auch nicht zitternd und schlotternd hier kauern, während Vorbeigehende ihn entsetzt angafften und der Ortungssender ihn mit seinen Hochfrequenzsignalen verriet. Also zwang er sich, einer im Aufbruch begriffenen Gruppe in den überfüllten Hafen zu folgen. Val bemühte sich, nicht zu torkeln und zu schlurfen wie ein Zombie, jedoch ohne viel Erfolg.
San Vito war selbst im Winter eine Touristenfalle für Engländer, Deutsche und Skandinavier, die die frostige Luft mild fanden und die fahle Sonne fast tropisch. Val verschärfte sein Tempo, während er sich durch die wogende Menschenmasse bewegte, gestattete sich jedoch nicht zu rennen. Er wäre so gut wie tot, wenn er sich wie ein gehetzter Hase verhielte. Und er durfte erst recht keinen Blick über die Schulter hinauf zu La Roccia riskieren, auch wenn die Anstrengung, es zu unterlassen, ihn fast umbrachte. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit spähte András oder einer seiner Männer mit einem Feldstecher nach
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