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Stunde der Vergeltung (German Edition)

Stunde der Vergeltung (German Edition)

Titel: Stunde der Vergeltung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shannon McKenna
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starrte in den Netzhaut-Scanner und hielt ihre Hand vor das Handflächen-Lesegerät. Eine mechanische Tür glitt seufzend auf.
    Das Innere der Klinik war kühl und modern gestaltet. Das Design schien darauf abzuzielen, dass man sich gleichzeitig bedeutsam und leicht benommen fühlte. Weiß gekleidete Ärzte eilten geschäftig umher und taten dabei sehr wichtig. Niemand schien Notiz von ihnen zu nehmen. Ausgezeichnet.
    Ana zögerte. Freundlich lächelnd piekte Tam sie mit der Nadelspitze. »Bringen Sie mich zu ihm. Jetzt.«
    Unter großer Anstrengung drängte die Frau schniefend die Tränen zurück, dann führte sie Tamara durch eine Reihe von Fluren und Treppenhäusern. Als sie schließlich vor einem Zimmer stehen blieb, strömten ihr die Tränen übers Gesicht.
    »Papa«, schluchzte sie. »Oh, bitte. Tun Sie das nicht. Bitte.«
    Gott, es war die reinste Folter. Verdammt sollte das Roboterbiest sein, weil es sie gerade jetzt im Stich ließ, wo sie es so dringend brauchte. »Öffnen Sie die Tür«, befahl Tam zähneknirschend.
    Ana gehorchte. Tam schob sie nach drinnen, anschließend musterte sie den Mann im Bett, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich im richtigen Zimmer standen.
    Er war es. Sie betrachtete die lange Gestalt, die dunklen, tief eingesunkenen Augen, die ihr entgegenblickten. Sie weiteten sich unmerklich.
    Tam stach die Nadel in Anas Arm. Der Frau fiel vor Entsetzen die Kinnlade runter, als Tam den Kolben nach unten drückte.
    »Keine Sorge. Ich habe die Ohrringe vertauscht. Es ist nur ein Schlafmittel«, versicherte sie der Frau in deren letzten klaren Sekunden. Sanft fing sie Anas Sturz auf, dann ließ sie sie in einem Bündel aus Wolle und Pelz neben der Tür liegen.
    Sie trat ans Bett. Stengl starrte zu ihr hoch. Sein Atem ging mühsam. Er trug eine Sauerstoffmaske über Nase und Mund.
    Merkwürdig. Tam hatte sich diesen entscheidenden Moment, der ihr Leben verändern sollte, so viele Male vorgestellt. Doch sie fühlte nichts, war emotionslos und gelassen, als wäre Stengl ein Fremder.
    Er wirkte substanzlos. Er war ein großer Mann, inzwischen jedoch zum Skelett abgemagert. In Tams Erinnerung war er ein Riese, schwitzend und stinkend und erdrückend schwer. Seine bleiche Haut war wie Pergament, seine farblosen Lippen pellten sich.
    Worte waren überflüssig. Wenigstens er erkannte sie, im Gegensatz zu Ana. Dieses Ausmaß an Befriedigung war ihr also vergönnt. Es war keine Überraschung in seinen Augen. Wenn überhaupt registrierte Tam einen Ausdruck der Erleichterung. Er wusste, dass sie gekommen war, um ihn zu töten, und dass das Ende seines Leidens in greifbare Nähe rückte.
    Sie trat näher und beugte sich über ihn. Sie starrte in seine blutunterlaufenen, wässrigen Augen und fragte sich, wer dahinter wohnen mochte. Wie er zu alldem imstande gewesen war. Gewehrfeuer schallte durch ihren Kopf. Die Schreie aus den Kellerverliesen. Die Erde, die in Mutters und Irinas Augen prasselte. Sie grub die Nägel in ihre Handflächen.
    Seine Augen leuchteten vor Sehnsucht, von ihr erlöst zu werden.
    In ihrem Geist wurde das Gesicht des Mannes von anderen Bildern überlagert: Ihr Vater lächelte sie über seine Goldschmiedewerkbank hinweg an, während er ihr das Handwerk beibrachte, das sie beide so sehr liebten. Sie sah sich selbst, wie sie mit der kleinen Irina spielte, und ihre Mutter, die sie wegen ihrer Aussprache in Französisch, Russisch, Italienisch und Ukrainisch rügte, ihr Vorträge über Politik, Philosophie und gute Manieren hielt und die ihr vorschwärmte, wie sehr Tam es lieben würde, eines Tages an der Sorbonne zu studieren, so wie sie es sich für sich selbst erträumt hatte.
    Sie sah das Leben, das Tam und ihre kleine Schwester Irina hätten haben können. Zerfallen zu Knochen und Staub.
    Sie schaute Stengl an, doch der Hass loderte nicht auf und versengte sie, wie er es bisher immer getan hatte. Die Stelle in ihrem Inneren, wo er gesessen hatte, war eine andere geworden. Sie hatte ihr Herz weit geöffnet, um darin Platz für Rachel zu machen, und dann noch einmal mehr für Val. Sie war verwandelt, verändert. Sie fühlte sich so weit und offen wie der Himmel.
    Es gab hier kein Monster mehr zu besiegen. Alle Macht, jemandem Leid zuzufügen, war aus der Kreatur in diesem Bett herausgesickert. Stengl war eine ausgebrannte Batterie. Tam würde nichts erreichen, wenn sie ihn umbrachte – stattdessen konnte sie aber alles verlieren. Sie war nicht länger die Frau, die nichts zu

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