Stunde der Vergeltung (German Edition)
drückte. Noch immer spürte er den sengenden Schmerz in Arm und Schulter. Noch immer sah er Georg, der die Frau, die er liebte, sabbernd befummelte.
Doch er driftete davon weg und lauerte in der gigantischen Stille seines Kopfes auf seine Gelegenheit. Irgendwann tat sich immer für einen Sekundenbruchteil eine Lücke auf, wenn der Geist offen und aufnahmebereit genug war, um sie zu spüren, flexibel genug, um sie als das zu erkennen, was sie war, und schn ell genug, um sie zu nutzen.
… jetzt küsste er sie, dieses elende Schwein von einem Vergewaltiger …
Nein. Dieser Gedanke würde seinen Fokus zerstören. Val ließ ihn los, lenkte seine Konzentration mit aller Macht zurück auf die Matrix. Warte ab. Warte ab .
Georg taumelte zurück und begann, seltsam herumzuzappeln, dabei hielt er sich brüllend die Hand vor den Mund. Er ohrfeigte Tamar erst ein Mal, dann ein zweites Mal.
»Was ist das? Was ist das? Wo ist das Gegenmittel?«, schrie er. »Wo ist das Gegenmittel, du verfickte Schlampe?«
Gegenmittel? Gift. Oh Gott, nein. Tamar. Nein .
Schockiert starrte der Mann, der ihn mit der Waffe bedrohte, auf das Spektakel. Val spürte, wie der unbarmherzige Druck des Pistolenlaufs an seiner Schläfe für einen Moment nachließ …
Ohne den grellen Schmerz, der ihn durchfuhr, zu beachten, warf Val sich rückwärts gegen Henry, zwang ihn, sein Gewicht zu verlagern, um nicht zu stürzen …
Jetzt!
Val rannte mit drei großen Schritten die Wand hinauf und machte einen Salto über Henrys Kopf hinweg. Henry brüllte, versuchte auszuweichen. Sie krachten zusammen zu Boden. Der Aufprall lockerte Henrys brutalen Klammergriff.
Er erwischte Val und warf ihn mit wütendem Gebrüll auf den Rücken, nahm ihn unter seinem massigen, muskulösen Körper gefangen. Val bäumte sich auf, kämpfte gegen ihn an … dabei drückte er mit dem Daumen gegen den Stein auf dem Ring an seinem Finger, Tams Ring, um die Klinge auszulösen. Sie war kurz, aber rasiermesserscharf und extrem spitz.
Henrys Finger rutschten an Vals blutigem Handgelenk ab. Knurrend entriss Val es ihm ganz – und stach den winzigen Dolch in Henrys Halsschlagader.
Schwallartig schoss das Blut heraus, überströmte ihn in rhythmischen Fontänen. Henry machte ein ersticktes Geräusch und begann, krampfartig zu zucken, dabei starrte er Val unverwandt ins Gesicht, in seinen Augen der Vorwurf des Verrats.
Val schob sich unter ihm heraus, schnappte sich seine Waffe und kämpfte sich blutbesudelt und schwankend auf die Füße. Er zielte auf den Mann, dessen Aufgabe es gewesen war, ihn mit der Pistole in Schach zu halten, und stellte ihm mit den Augen eine wortlose Frage.
Der Schütze schüttelte zur Antwort den Kopf. Sein entsetzter Blick glitt von Georgs Leichnam zu Henrys, dann zu Tam und zurück zu der Waffe in Vals Hand. Im Zimmer herrschte Totenstille, wenn man von Vals hektischen Atemzügen und dem wimmernden Flüstern des Windes einmal absah. Die schweren Brokatvorhänge bauschten sich auf und wogten in der Brise. Kerzenflammen züngelten empor.
Der Mann hob mitsamt der Pistole die Hände und zog sich behutsam rückwärts zurück in Richtung Tür. Unter seinen Stiefeln knirschten und knackten Glasscherben, als er über den toten Körper seines Kollegen stolperte. Er fing sich gerade noch auf, dabei richtete er noch nicht mal den Blick nach unten.
»Bin schon weg, okay? Ich hau ab. Ich war gar nicht hier.«
Val nickte, dann wartete er, bis der Mann aus der Tür war. Er rannte mit hastigen Schritten davon. Die anschließende Stille war erdrückend.
Val drehte sich zu Tam um. Sie hing schlaff in ihren Fesseln, die Augen geschlossen, das Gesicht leichenblass. Blut rann aus ihrer Nase und ihren Mundwinkeln. Georg lag völlig still da, nur seine Füße zuckten noch. Blutiger Schaum stand ihm vor dem Mund. Sein Gesicht war blau, die Zunge quoll hervor.
Tam hatte irgendein Gift eingesetzt. Einen Kamikaze-Trick. Großer Gott.
Val hatte schon unzählige Male in seinem Leben innerlich auf taub geschaltet, um etwas Grauenvolles durchzustehen, aber nichts davon hatte ihn auf das hier vorbereitet. Er war wieder ein hilfloses Kind, das auf das Ende der Welt starrte.
Doch dann bemerkte er fassungslos, wie Tams Lider flatterten und sie die Augen öffnete. Sie fokussierten irgendetwas hinter ihm und weiteten sich. Hektisch rang sie nach Atem.
»Pass auf!«, krächzte sie.
Val sprang zur Seite. Die Kugel streifte seine Hüfte und fügte seinen zahlreichen Verletzungen
Weitere Kostenlose Bücher