Stunde der Wahrheit
ihr anstellte. Als sie das Ende des Regals erreicht hatte und nur noch wenige Schritte von der Tür entfernt war, spannte sich sein gesamter Körper an – bereit zum Sprung. Emma sah, wie er sich unauffällig von der Theke löste, um schneller reagieren zu können, wenn sie zu fliehen versuchte. Sie schluckte, bemüht, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen.
»Warum nehmt ihr nicht einfach das Geld und lasst ihn in Ruhe?«, fragte sie und deutete hinter sich. Der Basecap-Typ sah kurz zur Tür, von wo aus dumpfe Geräusche erklangen und sagte:
»Ist was persönliches.« So wie es klang, musste es aber
sehr
persönlich sein, dachte sie mitfühlend. Sie musste dringend Hilfe holen, bevor sie den armen Mann noch zu Tode prügelten. Ihr Gegenüber musterte sie erneut, dann fragte er:
»Du kommst nicht von hier. Was hast du hier verloren?«
»Ich war jemanden besuchen«, antwortete sie sofort. Sie wollte erst gar keinen Smalltalk aufkommen lassen, sondern so schnell wie möglich von hier verschwinden. Sein Blick blieb an ihren High Heels kleben.
»Bist du eine Nutte?«
»Was? Nein!«, antwortete Emma entrüstet. Dabei störte sie nicht einmal, dass er sie für eine hielt, sondern eher seine Wortwahl. Selbst wenn sie einer Prostituierten gegenüber stehen würde, würde sie niemals einen solchen Ausdruck verwenden!
»Dann weiß ich nicht, wen du hier besuchen solltest«, überlegte er laut. Emma antwortete nicht, stattdessen fragte sie:
»Lässt du mich jetzt gehen?« Er deutete in einer eleganten Aufforderung zum Ausgang.
»Sicher, wenn du uns nicht verpetzt.« Sie nickte und lief zur Tür. Dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen, aus Angst, er würde sich jeden Augenblick auf sie stürzen. In ihrem Kopf spielten sich bereits Dutzende Szenarien ab: Wie er sie von hinten anfiel, ihr die Beine stellte, sie an den Haaren zurückzog oder auf den Boden stieß. Ihrer Fantasie waren da keine Grenzen gesetzt. Doch nichts von alledem geschah. Auch nicht, als sie den Laden verlassen hatte und bereits einige Schritte gelaufen war. Doch dann hörte sie die Tür hinter sich knarren und fuhr erschrocken herum. Da stand er auf der Schwelle und sagte:
»Zehn.« Emma begriff nicht, was er meinte, bis er rückwärts zu zählen begann:
»Neun. Acht.«
»Aber … du hast doch gesagt, du lässt mich laufen!«, sagte sie rückwärts gehend und mit pochendem Herzen.
»Das mache ich doch«, antwortete er mit einem schiefen Lächeln.
»Ich lasse dir einen fairen Vorsprung. Sieben!« Sie hätte es wissen müssen! Emma drehte sich um und rannte los, doch obwohl er langsam zählte, holte ihr Verfolger schnell auf - was nicht einmal an ihren hohen Schuhen lag. Denn die hatte sie, kaum, dass sie losgerannt war, ausgezogen und in die Hände genommen. Nein, er war einfach schneller als sie und holte sie schon nach wenigen Sekunden ein. Emma war die Straße zurückgerannt, in der Hoffnung, jemandem zu begegnen. Sie hatte das Fenster, aus dem sie sich gehangelt hatte, direkt über sich, doch um wieder hinaufzuklettern, war sie einfach nicht sportlich genug und einen Hausschlüssel besaß sie nicht.
Der Basecap-Typ packte sie an den Schultern und zerrte sie grob herum, da riss Emma ihre Arme hoch und schlug mit den Schuhen nach ihm. Sie musste ihn nur genügen damit verletzen, dann konnte sie vielleicht entkommen. Doch er fing ihre Schläge mit einer Leichtigkeit ab, als prügele er sich jeden Tag – und das mit viel eindrucksvolleren Gegnern als sie. Er riss ihr die Schuhe aus der Hand und schleuderte sie von sich, ein triumphierendes Grinsen im Gesicht. Dann fragte er:
»Was mache ich jetzt mit dir?« Und näherte sich ihr. Emma wich zurück und hatte Mühe, nicht über ihr Kleid zu stolpern. Sie befürchtete, keine Gelegenheit mehr zum Aufstehen zu bekommen, wenn sie erst einmal am Boden lag. Ohne weiter nachzudenken, schlug sie nach seinem Gesicht und wurde in diesem Moment von einem grellen Licht geblendet. Nun hätte sie ihren Misserfolg der Beleuchtung zuschreiben können, aber irgendwie glaubte sie nicht, dass sie überhaupt getroffen hätte. Sie spürte ihren Schlag ins Leere gehen, im nächsten Moment wurde ihr der Arm brutal auf den Rücken gedreht. Emma schrie auf und hörte eine Autotür zufallen. Dann war der Schmerz verschwunden und sie lag plötzlich am Boden. Sie konnte immer noch nichts erkennen, weil die Scheinwerfer genau auf ihr Gewicht strahlten, doch sie vernahm ein unappetitliches Knacken, als würde ein
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