Stunde der Wahrheit
gab es sicher ein Telefon oder sie würde den Verkäufer bezahlen, damit er ihr ein Taxi rief. Sie spürte den kalten Pflasterstein unter ihren Füßen und blieb stehen. Eigentlich hatte sie die High Heels nicht anziehen wollen, um schneller voran zu kommen, aber wenn sie sich keine Erkältung einfangen wolle, musste sie sie wohl oder übel wieder anziehen. Also schlüpfte sie in ihre Schuhe und lief weiter. Klack Klack … Klack Klack.
Ihre Absätze machten solch einen Krach, dass es nicht lange dauern würde, bis auch der letzte Bewohner von ihrer Anwesenheit erfuhr. Sie befand sich hier in einer der schlimmsten Gegenden der Stadt, hatte Eric gesagt. Da sollte sie möglichst unauffällig bleiben. Und in diesem Aufzug rief sie ja geradezu nach Ärger! Also zog sie die Schuhe wieder aus und nahm die stechende Kälte an den Fußsohlen in Kauf. Sie trug zwar Strumpfhosen, aber diese waren so dünn, dass sie nicht wirklich vor der Kälte schützten. Als sie ihr Ziel erreicht hatte und sich in Sicherheit wiegte, schlüpfte sie allerdings wieder hinein. Dabei kam sie sich vor wie in einem schlechten Horrorfilm. Denn das Geschäft wurde, außer seinem blinkenden Werbeschild, nur von einer einzigen Laterne beleuchtet. Der Rest der Straße und auch die gegenüberliegende Seite lagen im Dunkeln.
Gruselig
, dachte sie und stieß die Ladentür auf. Eine Glocke erklang und kündigte ihr Eintreten an, doch vom Verkäufer war weit und breit nichts zu sehen. Es war ein kleines Geschäft, gerade mal drei Reihen breit und fast ausschließlich mit Alkohol bestückt. Lediglich an der Theke gab es Süßwaren, Zigaretten und Zeitschriften.
»Hallo?«, rief Emma und spähte ans Ende des Raumes, wo sich eine Tür befand. Vielleicht machte der Verkäufer gerade Pause oder rauchte im Hinterhof eine Zigarette. Sie näherte sich der Tür, als eine hochgewachsene Gestalt daraus hervortrat. Es war ein Mann, etwa ihren Alters, schlank und groß. Das Basecap lag ihm tief im Gesicht, so dass sie seine Augen nur schwer erkennen konnte.
»Hi, dürfte ich vielleicht kurz telefonieren? Ich brauche ein Taxi, finde aber weit und breit keine Telefonzelle«, sagte Emma und deutete auf die verlassene Straße hinter sich. Der Verkäufer kam näher und betrachtete ihr schickes Outfit, dann lief er, ohne eine Antwort zu geben, an ihr vorbei, direkt auf die Ladentür zu. Er schob die Jalousien beiseite und spähte auf die Straße, dann fragte er: »Bist du alleine?«
»Äh, wie bitte?«, fragte Emma, die von seinem Verhalten verwirrt war.
»Ob du alleine da bist?«, fragte er ungeduldig und löste seinen Blick von der Straße, um sie anzuschauen. Das brachte sie dazu, ihn noch einmal eingehend zu betrachten. Er trug eine Bikerjacke, dazu abgewetzte Jeans, schwarze Schuhe und fingerlose lederne Handschuhe. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er so gar nichts von einem Kioskverkäufer hatte. Ihr Herz machte einen Satz und im nächsten Moment stürmte sie zur Hintertür des Geschäftes. Zu ihrer Verwunderung rührte er sich aber nicht von der Stelle. Als sie die Tür aufstieß, blieb sie erschrocken stehen und starrte auf das Szenario vor sich.
Der Verkäufer kniete mit blutverschmiertem Gesicht auf dem Boden, vor und hinter ihm zwei weitere Männer, die genauso unfreundlich gekleidet waren wie der Basecap-Typ. Doch ihre Reaktionen hätten nicht unterschiedlicher sein können: Der hintere Täter wanderte mit einem anzüglichen Lächeln über ihr Outfit, der Vordere schenkte ihr einen unfreundlichen Blick – offenbar verärgert über die Störung. »Zieh Leine, Süße«, knurrte er unbeeindruckt und wandte sich wieder seinem Opfer zu. Emma warf noch einen Blick auf den Verkäufer, der sie weiterhin stumm anflehte, dann zog sie sich aus dem Hinterzimmer zurück. So verrückt war sie nicht, dass sie sich mit drei ausgewachsenen Verbrechern anlegte. Sie würde ihm irgendwie helfen, doch dazu musste sie erst einmal selbst von hier fortkommen. Wenn sie nur ihr Handy dabei hätte, dann könnte sie unauffällig die Polizei rufen.
»Wolltest du irgendwo hin?«, fragte der Basecap-Typ belustigt, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er verschränkte die Arme und lehnte sich lässig an die Kassentheke. Und als sie sich vorsichtig einen Weg durch die hinterste Regalreihe bahnte, beobachtete er sie müde lächelnd. Sie machte nicht den Fehler, auf die Ladentür zuzurennen, denn dann hätte er sie mit Sicherheit abgefangen – und Gott allein wusste, was er dann mit
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