Sturm der Herzen
Mit gesenktem Kopf saß sie auf der Bettkante und strich behutsam mit den Fingern über Lord Mannings Hand. Neben ihr stand der Arzt Mr Seward, sein langes Gesicht in ernsten Falten.
Marcus räusperte sich, und Isabel zuckte zusammen. Sie schaute über ihre Schulter, sah ihn, sprang auf und lief zu ihm, warf sich ihm in die Arme und gestand atemlos: »Oh, dem Himmel sei Dank, dass du gekommen bist! Er hat darauf bestanden, dass du geholt wirst.« Sie drängte die Tränen zurück. »Es ist alles so plötzlich geschehen. Wir sind heimgekommen, nachdem Edmund zu Bett gegangen war, haben wir uns noch kurz zusammen ein wenig in den grünen Salon gesetzt, aber dann hat er plötzlich so einen merkwürdigen Laut von sich gegeben und ist einfach zu Boden gesunken.« Ein Schauer durchlief sie, als sie diesen schrecklichen Moment noch einmal durchlebte. »Ich habe nach Deering gerufen, und wir haben ihn wieder wach bekommen, aber obwohl er bei Bewusstsein war, hat er nur undeutlich gesprochen und schien uns auch nicht zu erkennen. Außer Deering und mir waren noch vier Lakaien nötig, um ihn die Treppe hoch und in sein Bett zu schaffen. Ich habe unverzüglich nach Mr Seward geschickt.« Tränen liefen ihr ungehindert über die Wangen. »Marcus, Mr Seward sagt, er habe einen Schlaganfall gehabt und stirbt jetzt.«
»Ich würde noch nicht alle Hoffnung fahren lassen, Liebes«, erklärte Marcus zuversichtlicher, als ihm eigentlich zumute war. Mit einem beruhigenden Lächeln fügte er hinzu: »Der Baron ist zäh wie Leder, und ich glaube nicht, dass er schon bereit ist, den Löffel abzugeben.« Er schob sie zur Seite und ging selbst zum Bett.
Mr Seward blickte ihn mit grimmiger Miene an. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt.« Missbilligend erklärte er: »Er hat nach Ihnen verlangt. Ich halte das für keine gute Idee, aber er war so aufgeregt, dass ich schließlich zugestimmt habe, dass Sie hierher geholt werden. Sobald er wusste, dass man nach Ihnen geschickt hatte, ist er gleich ruhiger geworden. Ich bitte Sie, lassen Sie nicht zu, dass er sich wieder aufregt; es könnte sein Ende schneller herbeiführen.«
Marcus stellte sich oben ans Kopfende und bemerkte erstaunt, welche Veränderung ein paar Stunden bei seinem alten Freund hervorgerufen hatten. Lord Mannings Züge waren grau und eingesunken, und man sah ihm jedes einzelne seiner fünfundsiebzig Jahre deutlich an.
Marcus setzte sich vorsichtig auf das Bett und nahm eine von Lord Mannings Händen in seine. »Mylord«, sagte er leise, »ich bin es, Marcus.«
Der alte Mann rührte sich und öffnete die Augen. »Marcus«, wiederholte er angestrengt. Ein Lächeln, eigentlich mehr eine Grimasse, flog über sein Gesicht. »Ich fürchte«, gelang es ihm zu sagen, »dass Sie mich nicht in bester Verfassung vorfinden.«
Voller Zuneigung erwiderte Marcus: »Allerdings, Mylord, ich habe Sie schon besser aussehen gesehen, selbst nach einer Nacht maßlosen Trinkens und Schäkerns.«
Lord Manning lachte halb, halb hustete er bei dieser Antwort. Seine blauen Augen strahlten heller, als er sagte: »Sie haben mir stets gutgetan. Haben mich zum Lachen gebracht, selbst wenn ich es gar nicht wollte.« Sein Blick richtete sich auf Marcus’ Gesicht. »Seward behauptet, ich müsse abtreten, aber ehe ich gehe, will ich noch eine Sache sehen: wie Sie und Isabel heiraten.«
Mit ausdrucksloser Miene und ohne sich etwas von der Trauer anmerken zu lassen, die in ihm aufwallte, wenn er an den bevorstehenden Tod seines alten Freundes dachte, starrte Marcus Lord Manning eine Weile an. Die Bitte des Barons war keine echte Überraschung; er war beinahe auf so etwas gefasst gewesen. Lord Manning war entschlossen, sich darum zu kümmern, dass Isabel sicher versorgt war und sein Enkel in zuverlässigen Händen, bevor er starb. Ehe die Pause zu lang wurde, nickte Marcus und erklärte: »Da das Ihr Wunsch ist, werde ich mein Bestes tun, mich darum zu kümmern, dass es in Ihrem Sinne erledigt wird.« Mit erzwungenem Lächeln sagte er: »Es ist nur gut, dass Mrs Appletons Bruder Bischof Latimer sie gerade besucht. Ich werde gleich aufbrechen, um eine Sondererlaubnis zu besorgen.« Er schaute über seine Schulter zu Isabel, die wie betäubt dastand. »Während ich fort bin, kann Isabel nach dem Vikar schicken, damit wir bei meiner Rückkehr ohne weiteren Aufschub heiraten können.«
Lord Manning nickte und fiel in tiefen Schlaf.
Marcus überließ es Seward, sich um den Patienten zu kümmern, er
Weitere Kostenlose Bücher