Sturm der Herzen
berührte sie an der Schulter und sagte: »Alle sind hier versammelt. Sollen wir anfangen?«
Mit weißem, angespanntem Gesicht, die goldbraunen Augen riesig und voller Qual nickte sie. Halb benommen vor Trauer bemerkte sie die anderen Leute im Zimmer kaum, wusste kaum, was sie tat. Sie war wie taub, und selbst der Gedanke an ihre Hochzeit mit Marcus konnte die Wolke aus Kummer nicht durchdringen, die sie einhüllte.
Sobald alles bereit war, sobald Isabel und Marcus auf der einen Seite des Bettes nebeneinander vor dem Vikar standen, die anderen im Halbkreis hinter ihnen, weckte Mr Seward Lord Manning behutsam. Lord Manning starrte den Arzt einen Moment verständnislos an, doch als ihm wieder alles einfiel, schaute er sich um und sah die anderen um sein Bett versammelt. Mit ein wenig Hilfe von Marcus und dem Arzt setzte er sich auf; ihm wurden Kissen hinter den Rücken gesteckt, in die er sich mit einem Seufzen sinken ließ.
Lord Mannings linkes Augenlid war halb geschlossen, und als er zu lächeln versuchte, war klar zu erkennen, dass sein Gesicht halbseitig gelähmt war. Trotzdem gelang ihm eine Art Lächeln, und er erklärte in aufmunterndem Ton: »Aus euren Mienen könnte man glatt schließen, dass ihr zu einer Totenwache gekommen seid und nicht zu einer Hochzeit.« Er setzte sich etwas aufrechter hin, und seine blauen Augen blickten schärfer, ehe er hinzufügte: »Ich bin noch nicht dazu bereit, mich unter die Erde zu begeben, daher wäre ich dankbar, wenn ihr diese Leichenbittermienen ablegen könntet. Das verdirbt einem ja ganz den Appetit.«
Seine Worte hoben die Stimmung, zufrieden mit dem Lächeln, das hie und da in den Gesichtern aufflackerte, schaute Lord Manning den Vikar an und winkte zu Isabel und Marcus. »Ich glaube, wir sind hier, um diese beiden heiraten zu sehen, daher lasst uns anfangen.«
Die Zeremonie war schlicht und kurz, sodass Marcus und Isabel innerhalb weniger Augenblicke zu Mann und Frau erklärt wurden. Wie in einem Nebel zog die Feier an Isabel vorbei. Sie hatte gemerkt, dass sie ihr Versprechen gegeben hatte, war sich Marcus’ Nähe bewusst, der groß und imposant neben ihr stand, aber die Bedeutung dessen, was geschah, entzog sich ihr. Ihre Hochzeit war etwas, das sie durchstehen musste, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Sohn und Lord Manning zuwenden konnte.
Marcus verspürte nahezu denselben Schmerz wie Isabel angesichts des drohenden Todes und war ebenfalls nicht ganz bei der Sache. Wie Isabel war er in Gedanken bei dem alten Mann, der sie vom Bett aus beobachtete. Als es Zeit wurde, die Braut zu küssen, tat er das und verspürte flüchtig das Aufflackern von Zufriedenheit und Glück. Isabel war nun sein! Seine Frau. Er schaute ihr in das emporgewandte Gesicht, und ein tiefes, primitives Gefühl regte sich in ihm. Nicht Verlangen, obwohl das auch unter der Oberfläche schlummerte, sondern etwas Stärkeres, Langlebigeres und Tieferes. Dann gratulierte ihnen der Vikar, und der Augenblick war verflogen, seine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Lord Manning.
Es war nicht die ungetrübte Freude, die man gewöhnlich bei einem solchen Ereignis empfand, aber die strahlende Miene Lord Mannings, nachdem Marcus seine Braut geküsst hatte, machte das mehr als wett. Sobald die Hochzeit vorüber war, scheuchten Seward und Marcus alle aus dem Zimmer, bis nur noch er, Isabel, Edmund und der Arzt bei Lord Manning im Raum waren.
Noch bevor die anderen eingetroffen waren, waren Vorbereitungen für ein Frühstück im Morgensalon getroffen worden. Es war mitnichten das festliche Hochzeitsfrühstück, das man unter normalen Umständen nach einem solchen Anlass erwarten würde, das war Isabel klar, aber es würde den Dienern etwas zu tun geben und einen Augenblick lang wieder so etwas wie Normalität herstellen. Sie bezweifelte, dass einer der Gäste bald schon aufbrechen würde. Sie würden, dachte sie mit sinkendem Herzen, bleiben, bis Lord Manning gestorben war.
Edmund setzte sich neben seinen Großvater aufs Bett, streichelte dem alten Mann den Arm, als könnte er durch seine Berührung den Tod aufhalten. Es kam ihm unmöglich vor, dass sein Großvater sterben sollte, und es tröstete ihn, seinen warmen, kräftigen Arm unter seiner Hand zu spüren.
Isabel saß auf der anderen Seite am Bett und zwang sich zu einem Lächeln. »Wir haben alle nach deiner Pfeife getanzt«, sagte sie neckend trotz des Kloßes in ihrem Hals. »Freust du dich über das Ergebnis?«
Lord Manning
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