Sturm der Leidenschaft
schon so bald zu einem Rückzug bewegen, so daß diese schändliche »Verlobung« bei Pauls Rückkehr nichts anderes als eine unerfreuliche Erinnerung war.
Es klopfte leicht an der Tür, und gleich darauf trat Tante Anne ein. Freundin oder Feindin, fragte sich Whitney und ließ sie nicht aus den Augen. »Wann haben Sie davon erfahren, Tante Anne?« fragte sie bemüht emotionslos.
Lady Anne setzte sich zu ihr aufs Bett und lächelte sie mitfühlend an. »An dem Tag, an dem ich meine Reise nach London absagte und unter vier unterschiedlichen Adressen an deinen Onkel schrieb.«
»Oh«, hauchte Whitney. Tante Anne hatte also versucht, Onkel Edward aufzuspüren, damit er ihr zur Hilfe kam. Sie hatte sie nicht verraten. Die Erleichterung war so groß, daß Whitneys Schultern zu zucken begannen. Tante Anne nahm sie in die Arme, und endlich gab sich Whitney ihren Tränen hin.
»Alles wird wieder gut«, murmelte Lady Gilbert und strich ihr die Haare aus der Stirn.
Als der erste Tränenansturm nachgelassen hatte, fühlte sich Whitney schon sehr viel besser. Sie trocknete sich die Augen und lächelte Anne kläglich an. »Ist das nicht ein ganz abscheuliches Komplott, Tante Anne?« Und als Lady Gilbert zustimmte, fügte sie hinzu: »Ich werde Paul heiraten. Das wollte ich schon immer! Aber selbst wenn das nicht so wäre, würde ich nie die Frau dieses . . . dieses degenerierten Wüstlings werden!« Irrte sie sich, oder hatte Tante Anne kurz die Stirn gerunzelt? »Du bist doch auf Pauls Seite, Tante Anne, oder?« erkundigte sie sich besorgt.
»Ich bin auf deiner Seite, mein Liebling. Ausschließlich auf deiner Seite. Ich möchte das, was für dich das Beste ist.« Tante Anne stand auf und ging zur Tür. »Ich werde Clarissa zu dir schicken. Es ist fast zwölf Uhr, und Seine Gnaden hat mitteilen lassen, daß er um ein Uhr erscheinen wird.«
»Seine Gnaden!« wiederholte Whitney gereizt. Bei allen anderen Adligen wurde von »Seiner Lordschaft« gesprochen, und man redete sie mit »Mylord« an - aber er natürlich nicht! Er war ein Herzog, etwas »Besseres« .. .
»Soll ich dein neues Wollkleid bügeln lassen?« fragte Tante Anne.
Düster sah Whitney zum Fenster hinüber. Da ihr nichts an der Bewunderung des Herzogs lag, hatte sie absolut kein Interesse daran, so attraktiv wie möglich auszusehen. Ganz im Gegenteil! Sie würde etwas Unscheinbares, Schlichtes anziehen - vor allem etwas, das er nicht bezahlt hatte. »Nein, nicht das Wollkleid. Ich lasse mir etwas anderes einfallen.«
Als Clarissa eintrat, wußte sie, was sie tragen würde. Und ihre Idee erfüllte sie mit grimmiger Befriedigung. »Clarissa, erinnerst du dich an den schwarzen Kittel, den Haversham trug, wenn sie die Treppen schrubbte? Meinst du, du könntest ihn finden?«
Clarissas freundliches Gesicht verzog sich besorgt. »Lady Gilbert hat mir erzählt, was letzte Nacht geschehen ist, Kind«, sagte sie. »Aber falls Sie die Absicht haben sollten, diesen Mann vor den Kopf zu stoßen, begehen Sie unter Umständen einen furchtbaren Fehler.«
Das Mitleid, das Whitney im Gesicht ihrer Zofe sah, rührte sie fast schon wieder zu Tränen. »O Clarissa, bitte streite nicht mit mir«, flehte sie. »Sag einfach, daß du mir helfen wirst. Wenn ich nur häßlich genug aussehe und es geschickt anstelle, bringe ich ihn vielleicht dazu, seine Absichten aufzugeben.«
»Ich habe Ihnen seit jeher beigestanden«, erklärte Clarissa liebevoll. »Davon zeugen schon meine weißen Haare. Und ich lasse Sie auch jetzt nicht im Stich.«
»Vielen Dank, Clarissa«, hauchte sie. »Jetzt weiß ich, daß ich zwei Freunde habe, die mir beistehen. Und mit Paul sind es drei.«
Eine gute Stunde später warf Whitney einen befriedigten Blick in den Spiegel, während Clarissa ihre schweren Haare zu einem Knoten zusammendrehte und mit einem schmalen schwarzen Band sicherte. Die schlichte Frisur betonte Whitneys klassisch geschnittene Züge und ihre hohen Wangenknochen. In ihrem blassen Gesicht wirkten die grünen Augen mit den dichten schwarzen Wimpern geradezu riesig und verstärkten den Eindruck einer fragilen, fast ätherischen Schönheit. Whitney war jedoch überzeugt davon, absolut scheußlich auszusehen. »So ist es hervorragend!« rief sie. »Und du brauchst dich nicht zu beeilen. Seine Gnaden kann ruhig ein wenig auf mich warten. Das gehört mit zu meinem Plan. Ich habe fest vor, ihm ein paar sehr unangenehme Lektionen über mich zu erteilen, und eine der ersten besteht darin, daß
Weitere Kostenlose Bücher