Sturm der Seelen: Roman
heulenden Motoren davon, zurück zur Insel.
»Haben Sie ihn immer noch?«, fragte Richard in die Dunkelheit.
»Ja, Sir«, erwiderte der Mann neben ihm.
»Erschießen Sie ihn.«
XLVII
SALT LAKE CITY
Oscar stolperte durch die Tür nach draußen, und der Schnee schlug ihm ins Gesicht, noch bevor er überhaupt einen Fuß auf die Dachterrasse gesetzt hatte. Er war denkbar schlecht gekleidet für das stürmische Wetter, aber die Kälte linderte augenblicklich den Schmerz in seiner zerschmetterten Nase und seinen brennenden Augen, und während das Adrenalin weiter ungehindert durch seinen Körper flutete, gefror die Mischung aus Garretts Blut und seinen eigenen Tränen zu einer eisigen Maske über seinem Gesicht. Er hatte das Gefühl, als schwanke das Dach unter seinen Füßen. Mit seinen blutverschmierten Händen rieb er sich die Oberarme, um sich ein wenig zu wärmen, dann schlurfte er weiter, auf den nächstbesten Mann zu, den er sah. Er stand mit dem Rücken zu ihm und schaute hinaus auf die Stadt. Aus der Thermoskanne in seiner Hand stieg heißer Dampf.
Als Oscar in den Knast ging, war er noch kein Krimineller gewesen, erst als er wieder herauskam. Er hatte seine Karriere begonnen als neunzehnjähriger Draufgänger, der zur falschen Zeit am falschen Ort war – in seinem Fall der Beifahrersitz eines gestohlenen Autos. Als er im Rückspiegel die Blinklichter des Streifenwagens hinter ihnen aufleuchten sah, wusste er, dass es Ärger geben würde, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wie viel. Hector trat aufs Gas, um die Bullen abzuschütteln, stattdessen fuhr er den Wagen nach einer Kurve gegen den nächsten Laternenmasten. Doch Hector war der bessere Läufer von beiden, und den Cops war es egal, ob sie nun einen oder zwei Autodiebe verhafteten, solange der, den sie hinter Gitter brachten, nur Mexikaner war. Der Diebstahl allein wäre ja gar nicht so schlimm gewesen, aber das Heroin im Kofferraum brach Oscar das Genick. Für das Auto, das er nicht einmal selbst gestohlen hatte, hätte er vielleicht sechs Monate Kost und Logis auf Staatskosten bekommen, aber die Drogen brachten ihm fünf ganze Jahre ein. Fünf Jahre mit offenen Augen schlafen, fünf Jahre tun, was auch immer nötig war, um zu überleben. Er konnte die Bilder kaum ertragen, die die Erinnerung an diese Zeit in ihm wachrief. Die anderen hier im Hotel mochten das Ende der Welt beklagen, aber Oscar weinte ihr keine einzige Träne nach. In Oscars Augen hatte die Welt nur bekommen, was sie verdiente. Genauso wie der Typ, der ihn brutal zusammengeschlagen, gefesselt und dann in der Überzeugung, er wäre bereits tot, einfach liegen gelassen hatte. Manche Leute mochten der Meinung sein, zweimal falsch ergebe nicht einmal richtig, aber wenn man Oscar fragte, war auf dieser Welt schon so vieles falsch gelaufen, dass nie wieder etwas richtig geworden wäre.
Und dies … dies war seine Chance für einen Neuanfang. Keine LAPD-Beamten mehr, die hinter jeder Ecke auf ihn lauerten, um ihn endlich als Wiederholungstäter lebenslang hinter Gitter zu bringen. Keine Vorarbeiter mehr, die dafür sorgten, dass er seine Überstunden niemals bezahlt bekam. Keine zehn Prozent Abzug mehr von jedem Gehaltsscheck, damit die Bank ihn auch einlöste, und keine Bewährungshelfer mehr, denen er umsonst Kokain besorgen musste, damit sie ihn nicht wieder zurück ins Gefängnis schickten. Nur in einer Welt, in der sie jeden Einzelnen brauchten, würde jemand wie er nochmal eine Chance bekommen, und Oscar hatte sie beim Schopf gepackt.
Er hatte einen Menschen getötet, so wie er es im Knast gelernt hatte … und er hatte sich noch nie besser gefühlt.
»He, Kumpel!«, rief er und humpelte weiter auf den Mann an der Brüstung zu.
Der Wachposten drehte sich um. »Jesus Christus«, stammelte er, die Thermoskanne glitt aus seiner Hand, und brauner Kaffee fraß sich in den blütenweißen Schnee. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«
»Ich wurde gerade wiedergeboren«, sagte Oscar mit einem blutverschmierten Lächeln.
»Hey, Chaz!«, rief der Mann. »Komm mal rüber und hilf mir!«
»Was ist denn los?«, rief Chaz zurück. »Ist endlich unsere Ablösung da? Können wir jetzt auch runter und was von diesem wunderbar …?«
Oscar sah, wie alle Farbe aus dem Gesicht des Mannes wich. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen riss er sein Gewehr hoch und zielte damit auf etwas unten auf dem Parkplatz, aber seine Hände zitterten so stark, dass er wahrscheinlich nicht einmal
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