Sturm der Seelen: Roman
Überlebenden in Mormon Tears unter Druck zu setzen, um den Jungen zu befreien, wenn nötig auch mit Waffengewalt. Aber nicht im Traum hätten sie damit gerechnet, dass die Dinge einen derart extremen Verlauf nehmen würden. Die anderen hatten keine Waffen, und das wussten sie. Sie hätten nur ein bisschen mit ihren Gewehren herumfuchteln müssen und wären in null Komma nichts mit dem Jungen wieder zurück gewesen. Stattdessen hatten sie, ohne es zu merken, eine unsichtbare Grenze überschritten, und je weiter sie sich vorgewagt hatten, desto deutlicher waren die Konsequenzen zu Tage getreten.
Und jetzt waren mehrere Menschen tot.
Am Anfang hatten sie sich noch auf der Seite der Gerechtigkeit gewähnt, und es war bestürzend, wie eng im Rückblick richtig und falsch beieinanderlagen. Sie hatten Gray nicht erschossen, aber sie hatten auch nichts unternommen, um es zu verhindern, und wenn einer von ihnen behaupten wollte, sie hätten nichts tun können, dann war das nichts als eine faule Ausrede. Sie hätten einschreiten können, als die Situation außer Kontrolle zu geraten begann. Vielleicht hatten sie die Anzeichen nicht rechtzeitig erkannt, aber im Rückblick waren sie ganz einfach blind gewesen. Sie hatten sich einwickeln und in etwas hineinziehen lassen, das keiner von ihnen gewollt hatte. Und sie hatten nicht den geringsten Widerstand geleistet. Als Richard dem Jungen die Augen ausstach, erwachten sie endlich aus ihrem Trancezustand, um sich mitten in einem Albtraum wiederzufinden. Richard war zu weit gegangen. Sie alle waren zu weit gegangen. Und jetzt rannten sie davon, anstatt zu versuchen zu retten, was noch zu retten war. Sie waren erbärmliche Feiglinge.
Aber vielleicht war das ein zu vorschnelles Urteil. Richard hätte sie ohne zu zögern erschossen, so wie den Dritten aus ihrer Gruppe, der beim Losen verloren hatte und deshalb zu Richard gehen und ihm von ihrem Beschluss berichten musste, zurück nach Salt Lake City zu fahren. Sie hatten nicht gesehen, wie der Mann gestorben war, aber sie hatten die Schüsse kaum gehört, da saßen sie auch schon auf ihren Speedern und jagten davon. Sie wussten, dass die beiden Zurückgelassenen dort oben liegen bleiben und neben dem Feuer verbluten würden, aber nichts in aller Welt hätte sie dazu bewegen können, noch einmal dort hinaufzugehen. Zu viel Schreckliches war auf der Insel geschehen, und es gab keine Anzeichen dafür, dass sich das ändern würde. Sie mussten zurück zum Hotel und sich mit den anderen auf den Kampf gegen diese Echsenwesen vorbereiten. Aber selbst diese Schlacht schien angesichts all des Blutvergießens, dessen Zeugen sie geworden waren, kaum noch von Bedeutung zu sein. Sie waren vom rechten Weg abgekommen …
Das Eis unter ihnen erzitterte, die beiden Schneemobile verloren für einen Moment den Bodenkontakt und schlitterten dann ein paar Meter unkontrolliert dahin.
Keiner von ihnen hatte auch nur einen einzigen Gedanken darauf verschwendet, ob das Eis sie tragen würde, und jetzt würden sie für ihre Leichtsinnigkeit bezahlen.
Der Sturm hatte derart an Stärke zugenommen, dass er sie regelrecht vom Rest der Welt abschnitt. Der Schnee fiel jetzt so dicht, dass sie kaum den Lichtkegel des Scheinwerfers ihres Nebenmannes erkennen konnten. Stattdessen starrten sie wie hypnotisiert auf den Boden vor ihnen in der Erwartung, dass jeden Moment herausgebrochene Eisblöcke vor ihnen aufragen würden wie Grabsteine, dazwischen das dunkle Wasser des Sees. Aber sie sahen nichts dergleichen, die Eisfläche war vollkommen intakt, und doch zitterte sie, als stampfe ein Riese über den See, den der Sturm vor ihren Augen verborgen hielt. Oder eine Armee …
Sie kamen gar nicht mehr dazu auszuweichen. Schwarze Silhouetten tauchten wie aus dem Nichts vor ihnen auf, und das spärliche Licht ihrer Scheinwerfer spiegelte sich in metallisch schimmernden Schuppenpanzern und an den scharfen Spitzen von gekrümmten Zähnen und Klauen. Dann fielen sie über sie her. Wie von einer Springflut, die über ihren Köpfen zusammenschlägt, wurde jeder von seinem Gefährt gerissen, und bevor sie überhaupt merkten, was vor sich ging, lagen sie bereits rücklings im Schnee.
Führerlos jagten die Motorschlitten noch ein Stück weit dahin, dann wurden sie umgestoßen und von wütenden Tritten zertrampelt. Windschutzscheiben splitterten, und Sitzbänke wurden zerfetzt, aber die Fahrer bekamen nichts mehr davon mit, denn von ihnen war bereits nichts weiter mehr übrig
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