Sturm der Seelen: Roman
aber er schaffte es immerhin, sich eine Hand vor den Mund zu halten, um nicht laut loszuschluchzen.
Dann hob er Jake auf seine Beine und lief mit ihm hinaus auf den Balkon, wo er ihn auf das bereits vereiste Geländer setzte und ihn mit einem Stöhnen hinüber auf den Nachbarbalkon hievte. Sobald er den dumpfen Knall hörte, mit dem die Füße des Jungen drüben auf dem Beton gelandet waren, kletterte er eilig hinterher. Wartend stand Jake da, Gray hob ihn in seine Arme und rannte zur Tür, blieb aber sofort wieder stehen, als er Stimmen hörte.
Gray spähte den Flur hinunter. Hätte einer der Männer sich in diesem Moment umgedreht, er hätte ihm direkt in die Augen gesehen, wie er da in der offenen Tür stand. Die drei bogen gerade um die Ecke am anderen Ende des Flurs. Garrett und Peckham gingen voraus, jeder einen Fuß von Susan in der Hand, deren Leiche sie hinter sich herschleiften. Richard folgte ihnen, sorgsam darauf bedacht, nicht in die rot-graue Flüssigkeit zu treten, die reichlich aus Susans zerplatztem Schädel floss.
Sobald sie um die Biegung herum verschwunden waren, rannte Gray auf die Tür zum Treppenhaus zu, stieß sie auf und stürzte mit polternden Schritten die Stufen hinunter, rauschte an mehreren gesichtlosen Schatten vorbei, die sich vorsichtig die Treppe hinaufschlichen, um nachzusehen, warum dort geschossen worden war. Verdutzt schauten sie ihm nach, wie er an ihnen vorüberflog, Jake fest an seine Brust gepresst, damit er so viele Stufen auf einmal nehmen konnte wie möglich. Endlich waren sie im Erdgeschoss angelangt, und Gray jagte quer durch die Lobby in Richtung Ausgang. Gesichter beobachteten sie mit weit aufgerissenen Augen – die in ihnen aufkeimende Angst war deutlich zu sehen.
»Fahr los!«, brüllte Gray, als er die Flügeltür noch nicht einmal ganz passiert hatte, doch dann sah er, dass Carrie auf dem Beifahrersitz saß. Der Auspuff spuckte dunkle Abgaswölkchen in die Luft, und zwei Lichtkegel erhellten die Vorderseite des Hotels. Mittlerweile hatte sich eine kleine Menschenmenge um den Truck versammelt, alle Augen waren nach oben gerichtet, wo hinter einem eingeschlagenen Fenster eine Silhouette auftauchte. Gray sprang über eine rote Pfütze, die dampfend in den Schnee sickerte und lief um die Motorhaube des Trucks herum, während Carrie sich über den Fahrersitz beugte und ihm die Tür aufmachte.
»Gray!«, kreischte sie. »Was ist passiert?!«
Völlig außer Atem konnte Gray nur den Jungen zu ihr hinaufreichen und mit letzter Kraft auf den Fahrersitz klettern. Noch bevor er die Tür wieder schloss, griff er nach dem Schaltknüppel und ließ den Truck rückwärtsrollen. Sie brauchten mehr Geschwindigkeit! Gray drückte das Gaspedal bis unten durch, der Truck schoss wie eine Rakete nach hinten, und Gray drehte sich um, um über seine Schulter hinweg genau auf die Mitte des Eingangstors zuzusteuern.
Bumm!
Die Windschutzscheibe zerbarst, Glassplitter schlitzten sein rechtes Ohr und seine Wange auf und skalpierten ihn beinahe, bevor sie prasselnd gegen die Heckscheibe schlugen.
Krachend prallte das Heck des Trucks gegen das Tor, und das Schloss zerbarst mit einem metallischen Kreischen. Die Torflügel wurden aus den Angeln gerissen und fielen klappernd auf den Asphalt, dann walzten die Reifen des Trucks mit einem mahlenden Geräusch über sie hinweg. Gray riss das Lenkrad herum, das Fahrzeug brach nach rechts aus, und das Führerhaus schwang herum, bis es in Fahrtrichtung den Highway hinunter nach Süden zeigte. Gray trat die Kupplung durch, prügelte den Schalthebel in den richtigen Gang und stieg erneut aufs Gas. Mit durchdrehenden Reifen jagten sie davon, und der Schnee peitschte ihm durch die kaputte Frontscheibe hindurch unbarmherzig ins Gesicht.
Jake saß zusammengekauert unter dem Armaturenbrett zu Carries Füßen und weinte.
Gray lenkte nach rechts, um auf den Zubringer zum Interstate Highway zu kommen.
»Alles okay?«, fragte er, zu nervös, um seinen Blick auch nur eine Sekunde lang von der Straße vor ihm loszureißen, aus Angst, er könnte von der Fahrbahn abkommen.
Als Antwort weinte Jake nur noch lauter.
»Carrie?«
Als sie endlich auf dem Highway waren, blickte Gray nach rechts. Carrie saß gegen das Seitenfenster gelehnt, Blut quoll unter ihrem Haaransatz hervor.
»Sag was, Carrie!«
Gray ging vom Gas und tastete nach seiner Frau. Durch das plötzliche Abbremsen sank ihr Körper vornüber und gab den Blick auf einen großen, nassen, roten Fleck
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