Sturm der Seelen: Roman
Flügelschlag wieder in die Luft, wo ihn der Blizzard sofort verschluckte.
»Igitt«, sagte Evelyn und starrte auf den stinkenden Schleim, der langsam den Schnee schmolz.
Dann sah sie, wie etwas darin schimmerte. Mit der Spitze ihres Schuhs schob sie eine rosafarbene Schlinge halb verdauten Gedärms beiseite, unter der eine Goldmünze zum Vorschein kam – wie in der Schatztruhe am Ende des Regenbogens …
Mit offenem Mund stand Evelyn da und starrte die Münze an. Was für eine Lektion in Demut. Als hätte Gott ihre Gedanken mitgehört und es für angebracht gehalten, ihr diese Botschaft zu schicken. Eine Botschaft der Hoffnung.
Vielleicht hatte der Mensch, von dem das Gemälde in der Höhle stammte, mehr Vertrauen in sie gesetzt, als sie selbst es tat. Es musste eine Möglichkeit geben, den Seetang zu retten, sie war bisher nur noch nicht darauf gekommen.
»Du kommst gerade rechtzeitig«, sagte Lindsay, die plötzlich vor ihr auftauchte. »O mein Gott. Ist dir schlecht?«
Evelyn blickte zu ihr auf und sah das verzogene Gesicht, mit dem Lindsay auf den Haufen Vogelkotze starrte.
»Das ist nicht von mir«, sagte sie lächelnd und schaute dann wieder nach unten. Die Münze war nicht mehr da.
»Dann ist’s ja gut. Ich hätte mir nämlich nicht gerne die Frage gestellt, was genau du da gegessen hast.« Mit ihren Stiefeln schob Lindsay etwas Schnee über den stinkenden Haufen. »Und jetzt komm mit, damit du bei unserem Test dabei sein kannst.«
»Was für ein Test?«
»Würdest du jetzt vielleicht einfach mitkommen?«
Lindsay eilte voraus, zurück zum Camp, und schlängelte sich durch das Labyrinth aus Speeren hindurch. Überall ragten sie aus dem Boden, vom Eingang der Höhle bis über die halbe Breite des Strandes. Die anderen standen vor der Höhle und schauten zwischen den Speerspitzen hinauf auf die Felswand über dem Eingang.
»Sind jetzt alle da?«, rief Adam von oben herunter. Durch das dichte Schneetreiben und den peitschenden Wind hindurch wirkte er auf diese Entfernung fast wie ein Gespenst.
»Ja!«, rief Lindsay zurück. »Endlich …«
»Na komm schon, tu’s!«, brüllte Mare.
»Bei drei!«, gab Adam zurück. »Eins … zwei …«
Der Umriss eines Körpers zeichnete sich zwischen den Schneeflocken ab, dann taumelte er den Abgrund hinunter. Evelyn schrie auf, als er direkt auf einem der Speere landete, der den Rumpf glatt durchstach. Sie rannte auf ihn zu, warf sich auf die Knie und hielt … ein Bündel Stroh in den Händen?
Alle um sie herum brachen in lautes Jubelgeschrei aus.
»Hat es funktioniert?«, rief Adam von oben herunter.
»Perfekt!« Das war Lindsay. Sie legte Evelyn eine Hand auf die Schulter. »Du hast doch nicht etwa geglaubt, Adam hätte sich … oder etwa doch?«
Evelyn hielt immer noch das muffige Stroh, das sie wohl irgendwo in dem Pueblo gefunden hatten, in der Hand. Die ganze Puppe bestand aus nichts weiter als aus einer am Bund mit einem Hemd zusammengenähten Hose, das Ganze mit Stroh ausgestopft.
Der Speer hatte die Vogelscheuche so sauber durchstochen, dass das Hemd bis auf ein kleines Loch praktisch nicht beschädigt war.
»Das hast du doch nicht im Ernst gedacht, oder?«, wiederholte Lindsay, unfähig, den amüsierten Tonfall in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Er ist ganz schön süß, findest du nicht auch?«
Evelyn sah Lindsay an. Sie war zutiefst verärgert über ihre kleine Bemerkung, auch wenn sie beim besten Willen nicht wusste, weshalb. War es möglich, dass sie plötzlich Gefühle für einen Mann entwickelte, den sie nicht einmal kannte?
Lindsay machte unterdessen munter weiter und versuchte, Evelyn ein bisschen zu ärgern.
»Weißt du, ich hab schon daran gedacht, mal abzuchecken, ob er noch zu haben ist.« Woraufhin Evelyn sie mit genau dem Blick bedachte, den sie erwartet hatte. »Ich meine, natürlich nur, wenn du keine Ambitionen in dieser Richtung hast.«
»Hab ich nicht«, erwiderte Evelyn viel zu schnell.
»Ah, wie praktisch. Dann macht es dir also nichts aus, wenn ich …«
»Nicht im Geringsten«, fiel Evelyn ihr ins Wort.
Lindsay grinste. »Nun, wenn du dir da so sicher bist …«
»Hey!«, schrie Norman oben auf den Felsen, wo er mit Adam gerade auf der anderen Seite wieder hinuntersteigen wollte, und hüpfte mit wedelnden Armen aufgeregt auf und ab. »Hier drüben!«
»Was ist denn los?«, rief April zurück.
Adam drehte sich um, damit sie ihn unten auf dem Strand verstehen konnte. »Da kommt ein Fahrzeug!«
»Ein Fahrzeug?«
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