Sturm der Seelen: Roman
auf dem Seitenfenster frei.
»Nein!«, brüllte Gray, dann griff er nach Carries Schulter und zog sie zu sich herüber.
Die gesamte rechte Gesichtshälfte fehlte. Knochensplitter ragten aus der gezackten Wunde, blutgetränkte Haarsträhnen hingen triefend über ihr Gesicht.
»O mein Gott … nein! Bitte … nicht meine Frau …«
XXVIII
MORMON TEARS
Sie starben ab, und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.
Evelyn balancierte kauernd auf einem der Felsen und stocherte mit ihrem Stock so lange im Eis herum, bis sie es in kleine Stückchen zerbrochen hatte, die sie auf den Rand des Lochs schieben konnte, das sie über ihren Seetangpflanzen freihalten wollte. Es gab nur noch einen kleinen Streifen Wasser am Ufer entlang, der Rest des Sees war, soweit sie es in diesem Sturm sehen konnte, mit einer über einen Zentimeter dicken Eisschicht bedeckt, auf der die Schneedecke schnell höher wurde.
»Sterbt mir nicht weg«, sagte Evelyn und starrte auf die Blätter, die begonnen hatten, sich bis zum Wurzelstock hinunter braun zu verfärben wie verfaulender Salat.
So viel zu ihrem Plan, sie alle mit Seetang zu ernähren. Sie hatten fast ihre gesamten Nahrungsreserven aufgebraucht und nur noch eine einzige Gallone Wasser übrig.
Wie der Seetang und der Traum, für den er stand, würden auch sie sterben.
Sie dachte kurz an das Gemälde in der Höhle, verscheuchte das Bild jedoch schnell wieder aus ihren Gedanken, um nicht auch noch diese letzte Hoffnung zu zerstören.
»Träume, nichts als Träume«, sagte sie zu sich selbst und stand vorsichtig auf. Während sie über den tief verschneiten Strand zurück zur Höhle ging, dachte sie an den Sturm, der sich über ihnen zusammenbraute. Zugegeben, ihr Spezialgebiet war Ozeanografie, aber sie hatte genügend Biologie- und Ökologiekurse besucht, um zu wissen, was ihnen bevorstand. Die mittlerweile anerkannte Theorie über das Aussterben der Dinosaurier besagte, dass der Einschlag eines riesigen Asteroiden so viel Staub in die Atmosphäre geschleudert hatte, dass er die Sonne verdunkelte und somit eine neue Eiszeit heraufbeschwor. Evelyn hatte das Gefühl, dass dies hier nichts anderes war. All die Nuklearexplosionen hatten mit ihren Atompilzen genau dasselbe bewirkt und Tonnen von Asche und Staub in die Luft gerissen, wo sie jetzt festhingen. Noch schlimmer waren die radioaktiven Wolken und diese anderen dunklen Gebilde aus Gott weiß was, die über ihnen hingen. Sie wusste zwar, dass diese sich letztendlich auflösen würden, nur wann, das war die Frage. In ein paar Wochen, Monaten oder, Gott behüte, Jahren?
Evelyn wünschte, in der Zeit zurückreisen und den Politikern und religiösen Fanatikern, die sie zu diesem Schicksal verdammt hatten, etwas mehr Verstand einprügeln zu können. Es stand wohl kaum im Koran oder in der Bibel geschrieben, dass Gott nur dadurch zu besänftigen sei, wenn seine gesamte Schöpfung ausgelöscht würde. Welcher Gott könnte seine eigenen Kinder derart hassen, dass er von ihnen verlangt, sich selbst zu vernichten? Sie glaubte an einen Gott, der ihr in den Farben jedes Sonnenuntergangs zulächelte, der sein Gesicht in jedem wundervollen ersten Atemzug eines neugeborenen Babys zeigte. Vielleicht war das aber auch nur eine törichte Fantasie, so wie die Legende, am Ende des Regenbogens läge ein Schatz vergraben, und es war an der Zeit, Abschied von dieser idealisierten Vorstellung zu nehmen. Falls das, was Gott wollte, tatsächlich Schmerz, Leiden … Tod … sein sollte, dann wollte sie mit Ihm nichts zu tun haben.
Evelyn zog die alte, abgewetzte Decke fester um ihre Schultern, klemmte die Zipfel unter ihrem Kinn fest und stemmte sich gegen den steifen Wind, der sie mit Schneekristallen, so groß wie Eindollarmünzen, piesackte und ihren kondensierenden Atem sofort in Fetzen riss, sobald er ihre Lippen passierte. Erst als sie sah, wie sich vor ihr etwas bewegte, blieb sie stehen.
Einer von diesen großen, weißen Raubvögeln hatte sich vor ihr auf dem Strand niedergelassen und blickte ihr mit zur Seite geneigtem Kopf direkt in die Augen.
»Was willst du von mir?«
Die Federn auf dem Kopf des Tiers richteten sich auf, und sein Hals schwoll an wie ein Kropf. Dann würgte der Falke mehrmals, sein Schnabel wippte auf und ab, bis er schließlich einen glibberigen Brei ausspuckte, der verdächtig nach halb verdauten Fischinnereien aussah und roch. Sogleich breitete der Vogel seine Schwingen aus und erhob sich mit einem einzigen
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