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Sturm der Seelen: Roman

Sturm der Seelen: Roman

Titel: Sturm der Seelen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael McBride
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versehentlich ein Schuss gelöst. Damit hätte Richard sich als der großherzige Retter inszenieren können, der das arme Waisenkind unter seine Fittiche nimmt und wie sein eigenes aufzieht – in seiner Suite, geschützt vor den neugierigen Augen und Ohren anderer. Doch jetzt, da der Junge verschwunden war, hatte er ein ernsthaftes Problem. Nicht nur, dass er jetzt nicht mehr die Rolle des Retters übernehmen konnte – ohne das Kind, und vor allem seine hellseherischen Fähigkeiten, stand sein Thron auf wackeligen Beinen. Die Leute glaubten schließlich, er habe Visionen, und jetzt würde er sie mit frei erfundenen Geschichten abspeisen müssen. Und wenn diese nicht eintrafen …
    Richard hatte nicht genug Zeit gehabt, um sich eine »offizielle Version« der Ereignisse zurechtzulegen, und er wusste, dass er seine Herde nicht länger vertrösten konnte. So gut wie jeder hatte irgendetwas mitbekommen, und wenn er ihnen genug Zeit ließ, würden sogar sie es am Ende vielleicht schaffen, sich den Hergang der Geschehnisse selbst zusammenzureimen. Er musste sich etwas durch und durch Überzeugendes ausdenken und keine Ungereimtheiten offen lassen; ihnen harte Fakten zum Verdauen geben, die jede Spekulation von vornherein ausschlossen und die Gruppe gleichzeitig zusammenschweißen würden – unter seiner Führung, natürlich. Er musste sie davon überzeugen, dass er sie beschützen konnte. Immerhin war der gerade erst ernannte Sicherheitschef soeben erschossen worden, und das sozusagen in ihrer Mitte. Ein nicht gerade vertrauenerweckender Umstand. Er musste die Initiative ergreifen, ihnen zeigen, dass er keine weiteren Gewaltausbrüche gegen seine Anhänger mehr dulden würde. Sie brauchten etwas Greifbares, etwas, gegen das sie ihren aufflammenden Zorn richten konnten, ihnen einen Ursprung für die Angst suggerieren, die sich bereits spürbar in ihnen aufbaute. Richard musste ihnen ein Feindbild präsentieren, ein Gesicht, das sie als Quelle und gerechtes Ziel ihres Hasses akzeptieren würden. Und genau in dem Moment, als er zu sprechen begann, wusste er endlich, was er sagen musste.
    »Bitte, meine Damen und Herren, wir haben viel zu besprechen.« Er breitete die Arme aus und wartete, bis das Rumoren all der Diskussionen in der Lobby verstummte. Anstatt ein Lächeln zuzulassen, das sich sofort auf sein Gesicht stehlen wollte, setzte er eine Miene von Betroffenheit und Zorn auf – den Ausdruck, der sich auch auf ihren Gesichtern widerspiegelte -, um sie auf seine Seite zu ziehen. »Es ist von größter Wichtigkeit, dass wir einen möglichst offenen und ehrlichen Dialog über das führen, was heute in dem Schrein, auf den wir alle unsere Hoffnungen und Träume für die Zukunft – die Zukunft der Menschheit – setzen, vorgefallen ist. Damit wir diese Dinge nicht nur verstehen, sondern sie ab jetzt auch verhindern können. Es geschah alles so schnell, dass ich die Tragödie und ihre erschütternden Konsequenzen noch immer nicht vollständig begriffen habe. Ich werde versuchen, genau zu wiederholen, was ich gesehen habe. Warten Sie also bitte mit Ihren Fragen und Kommentaren, bis ich zu Ende gesprochen habe.«
    Er hatte sich dazu entschieden, sich diesmal nicht auf einen Stuhl zu stellen, sondern sich auf eine Ebene mit seinen Zuhörern zu begeben. Also stand er einfach ebenerdig vor dem Eingang zum Restaurant, während die anderen auf Stühlen und auf dem Boden dazwischen um ihn herumsaßen. Richard blickte in ihre Gesichter. Es war wichtig, dass sie ihn in diesem Moment als einen der ihren wahrnahmen, als einen Gleichen unter Gleichen, und nicht als jemanden, der über ihnen steht.
    »Ich gebe unumwunden zu, dass ich naiv war. Ich bin nur ein Mensch, und als solcher neige ich dazu, in meinen Mitmenschen eher das Gute als das Schlechte zu sehen. Als wir Mormon Tears auf der Suche nach einem besseren Leben hinter uns ließen, wurden die, die zurückblieben, neidisch: auf die Macht, die ihr mir anvertraut habt. Und ich war blind für diesen Neid. Tatsächlich habe ich ihnen selbst noch angeboten, zu uns zu stoßen, wenn wir unser neues Heim errichtet haben, falls es sie doch noch nach einem behaglicheren Zuhause verlangen sollte. Meine letzten Worte an sie waren eine Einladung in unser Allerheiligstes.« An dieser Stelle machte er eine kurze Pause, um die Wirkung seiner Worte an ihren Gesichtern abzulesen, worin er schon immer ein Meister gewesen war. »Aber sie wollten mehr, als nur in unserer Mitte aufgenommen zu

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