Sturm der Seelen: Roman
behaupteten, sie hätten gesehen, wie der Mann Peckham vom Parkplatz aus erschossen habe, oder mit angehört, wie er, als er sich allein glaubte, etwas von seinen heimtückischen Plänen vor sich hin murmelte.
»Bitte, vergebt mir!«, schluchzte Richard, sank auf die Knie und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Seine Schultern und sein ganzer Rücken wurden von Weinkrämpfen geschüttelt.
Seine Zuhörer verstummten. Keiner traute sich ein Wort zu sagen, bis schließlich eine Frau vom Boden aufstand, zu Richard hinüberging und ihm sanft eine Hand auf die Schulter legte.
»Sie trifft nicht die geringste Schuld«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. »Er hat uns alle getäuscht.«
»Geben Sie sich keine Schuld«, schloss sich jetzt auch einer der Männer an. »Wenn Sie versucht hätten, noch mehr zu unternehmen, wäre der Junge jetzt auch tot.«
»Quälen Sie sich nicht länger«, stimmte ein anderer mit ein. »Sie haben alles getan, was Sie konnten.«
Immer mehr tröstende Worte ergossen sich über ihn, bis er ihre Hände praktisch überall auf seinem Körper spürte, wie sie versuchten, seinen Schmerz zu lindern. Sie gäben ihm keine Schuld, sagten sie. Er sei mutiger als sie alle zusammen. Sie brauchten ihn. Sie liebten ihn.
Sie beteten ihn an.
Richard stand auf; alle hatten sie sich um ihn versammelt.
»Ich habe etwas versprochen«, sagte er und wischte sich die Tränen ab. »Ich habe dieser Frau etwas versprochen.«
Absolute Stille. Sie hingen förmlich an seinen Lippen.
»Ich habe versprochen, dass ich mich um ihren Sohn kümmern würde, falls ihr etwas zustoßen sollte, dass ich für ihn sorgen würde, als wäre er mein eigenes Kind, und dafür Sorge tragen, dass ihm nichts geschieht. Und auch sie habe ich jetzt zutiefst enttäuscht.«
»Wir holen ihn zurück«, kam die raue Stimme eines Mannes aus dem hinteren Teil der Lobby. Zustimmung aus allen Richtungen.
»Das ist allein meine Angelegenheit. Sie liegt in meiner Verantwortung«, sagte Richard. »Ich habe ein Versprechen gegeben, das ich einhalten werde, und ich weigere mich, dafür das Leben von einem von Ihnen aufs Spiel zu setzen.«
»Wir holen diesen Jungen zurück«, wiederholte der Mann. »Ganz egal, was es kostet.«
Richard lächelte.
Er würde den Jungen wiederbekommen, und nichts würde ihn dann noch aufhalten.
XXX
MORMON TEARS
Jill saß auf dem neu aufgeschütteten Deich, Tränen strömten über ihr Gesicht. Dabei zuzusehen, wie dieser Mann die Liebe seines Lebens zu Grabe trug, war mehr, als sie ertragen konnte. Gray stand unten am Strand, am Fuß des Loches, das sie gemeinsam ausgehoben hatten, und richtete seine letzten Worte an seine Frau. Die anderen standen in respektvollem Abstand um ihn herum, gaben ihm all die Zeit, die er brauchte, um sich zu verabschieden.
»Es war alles meine Schuld«, flüsterte er. Schnee begann sich auf seinem Kopf und seinen Schultern zu sammeln, aber er merkte es nicht einmal.
»Sie ist jetzt bei Gott«, sagte der kleine Junge. Er ging zu ihm und nahm seine Hand, um mit ihm zu trauern. Er wusste, dass ihm die Worte kein Trost sein würden, denn ihn trösteten sie auch nicht. »So wie meine Mami.«
Gray blickte zu Jake hinab und drückte seine kleine Hand, dann hob er ihn zu sich hoch. Gemeinsam starrten sie die Leiche an, bis Gray es nicht mehr ertragen konnte und sich wegdrehte. Jetzt kamen die anderen heran und begannen, die Grube zuzuschaufeln, während Gray mit Jake auf dem Arm sich vor der Höhle in den Schnee setzte und eine Decke über sie beide legte. Der kleine Junge lehnte den Kopf an seine Schulter, und beide schauten sie hinaus auf den See.
Jill musste die Augen schließen. Diese Szene war gleichzeitig das Traurigste und das Schönste, das sie jemals gesehen hatte. Selbst aus dieser Entfernung bereitete der Anblick ihr geradezu körperliche Schmerzen, aber sie wusste, dass sie das Leid dieses Mannes nur noch verschlimmern würde, wenn sie auch unten am Strand wäre. So viele Menschen waren gestorben, dass ihr Verstand die Zahlen gar nicht mehr fassen konnte, aber der Tod dieser einen Frau, deren Mann sie mehr geliebt hatte als alles andere auf der Welt, machte das Sterben wieder real. So viele Leben waren ausgelöscht worden, vollkommen beiläufig … Mütter … Väter … Kinder. Sie waren mehr als nur Opfer eines Krieges, sie wurden dahingerafft von einer kosmischen Gleichgültigkeit, die ihr das Herz zerriss. Zu Lebzeiten hatten sie denen, die sie liebten, alles
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