Sturm der Seelen: Roman
hatte, wäre Garretts Schicht schon eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang vorüber. Er ging die engen Stufen hinauf zu dem kleinen, runden Raum mit den vier Rundbogenfenstern, die vermutlich nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet waren. In der Mitte des Raumes befand sich ein kleiner Tisch mit einer Glasplatte, darunter eine Karte von Salt Lake City und Umgebung, auf der jede touristische Sehenswürdigkeit mit einem roten Pfeil markiert war. Der größte Teil der Karte sowie auch der Rest des Raumes war jedoch von Eis und Schnee überzogen. Das leicht überhängende Dach hielt zwar das Schlimmste ab, aber der extreme Wind blies immer noch jede Menge Schnee durch die offenen Fenster herein und auf der anderen Seite wieder hinaus. Vor jedem der Fenster stand ein Münzfernrohr, aber der Mann, der gerade Wache hatte, benutzte stattdessen ein Fernglas, mit dem er beinahe jede halbe Minute von einem Fenster zum anderen lief, stets mit seinem Gewehr über der Schulter.
»Warum gehen Sie nicht nach unten und sehen zu, dass Sie noch was vom Abendessen abbekommen?«, meinte Garrett, woraufhin der Mann wie vom Blitz getroffen zusammenzuckte und umständlich versuchte, sich das Gewehr von der Schulter zu reißen, das jedoch nur klappernd auf den Boden fiel. »Ich trete meine Schicht einfach schon ein paar Minuten früher an.«
»Sicher?«
Garrett warf einen Blick auf das auf dem vereisten Boden liegende Gewehr. »Natürlich. Geht schon in Ordnung.«
»Sie sind der Boss«, erwiderte der Mann und drückte Garrett das Fernglas auf die Brust.
Ja, das bin ich , dachte Garrett mit einem Lächeln. Sobald Richard aufgebrochen war, hatten sie ihn ohne zu zögern als ihren neuen Anführer akzeptiert. Er liebte Richard wie einen Bruder, aber seine Tränen würden schnell versiegen, falls Richard nicht zurückkehren sollte.
»Es ist noch Kaffee in der Thermoskanne«, hörte er den Mann rufen, während er schon mit polternden Schritten die Treppe hinuntereilte. Dann war er weg.
Garrett hob das Gewehr vom Boden auf und ging zu dem Fenster, von dem aus man die Stadt sehen konnte. Die Schneeflocken jagten fast waagrecht über den Himmel, und Garrett wunderte sich zum ersten Mal in seinem Leben, wie verschachtelt und detailreich eine Stadt sein konnte. Er sah die hellen Kuppeln der Olympiastadien über das ganze Stadtgebiet verteilt, im Zentrum die große Mormonenkirche, einen riesigen Tempel, erbaut aus grauem Stein, mit Türmen an Vorder- und Rückseite, als wäre Garrett in Europa und blickte auf ein französisches Schloss. Er hob das Fernglas an die Augen und betrachtete das beeindruckende Bauwerk: runde Fenster und welche mit Spitzbogen und natürlich der Schnee, der an der Fassade und den Fensterscheiben …
War das Glas der Fenster gestern nicht noch intakt gewesen? Er hatte nicht genau hingesehen, aber er hätte schwören können, dass …
Garrett legte das Fernglas ab und riss sich das Gewehr von der Schulter. Durch die Optik des Zielfernrohrs konnte er das Fenster viel genauer erkennen. Schneeflocken, durchsichtig und groß wie Elefanten, behinderten seine Sicht, dennoch konnte er an den Rändern des Fensters gezackte Glassplitter erkennen, beschmiert mit einer weißlichen Substanz.
Sein Herz schlug so schnell, dass er das Gewehr kaum ruhig halten konnte.
Hektisch versuchte Garrett, den Platz vor der Kirche näher in Augenschein zu nehmen, doch mehrere Gebäude versperrten ihm die Sicht.
Er hörte das Geräusch schlurfender Schritte hinter sich, wagte aber nicht, sein Auge vom Zielfernrohr zu nehmen.
»Waren die Fenster dieser Kirche gestern nicht noch ganz?«, rief er über die Schulter. Er suchte nach weiteren Hinweisen, ließ die Zieloptik über Häuserdächer, die verglaste Fassade einer Bank und einen Park gleiten, dessen vollkommen zugeschneite Bäume selbst in der Vergrößerung aussahen wie Marshmallows.
Die Schritte kamen näher, aber es kam keine Antwort.
Garrett nahm schon wieder das nächste Gebäude ins Visier, als er begriff, was er soeben gesehen hatte. Was er für eine Reiterstatue gehalten hatte, hatte sich bewegt, genau in dem Moment, als er seinen Blick darüber hinwegschweifen ließ. Zumindest machte es den Anschein. Er ließ die Zieloptik wieder zurückwandern, und dort, wo die Statue gestanden hatte, loderten jetzt Flammen aus dem Schnee, und dahinter … dahinter bewegte sich etwas Schwarzes, es sah aus wie Wasser, wie eine Welle, die auf ihn zurollte, gesprenkelt mit goldenen Tupfern, als
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