Sturm der Verfuehrung
und im nächsten Moment fragte Malcolm: »Wie geht es der Countess?«
Charlie ließ sich nichts anmerken. Die Nachfrage war vorsichtig, fast schüchtern gekommen, als wüsste Sinclair, dass er sich auf dünnes Eis wagte, könnte aber trotzdem nicht umhin, sich zu erkundigen.
Charlie unterdrückte ein Schulterzucken und antwortete, ohne sich umzudrehen: »Sie ist wohlauf, doch das Verschwinden eines Tagesbuchs bereitet ihr Kummer. Ein Erinnerungsstück von einer verstorbenen Tante. Aber ich kann ihr nicht helfen.« Obwohl er wünschte, es wäre anders. Das Gefühl der Hilflosigkeit wurmte ihn, traf ihn, wo er noch empfindlich war. »Und heute früh wollte sie, dass ich sie zum Waisenhaus begleite - als hätte ich nichts anderes zu tun.«
Stille senkte sich über den Raum. Schließlich sagte Malcolm: »Nun, sie ist eine junge Ehefrau ... vielleicht sollten Sie ein wenig Zeit mit ihr verbringen ... natürlich spreche ich nicht aus Erfahrung, aber es scheint der Brauch zu sein.«
Wieder hatte er vorsichtig gesprochen, seine Worte sorgfältig gewählt und auf seinen Ton geachtet. Charlie verzog das Gesicht. »Ich kenne meine Frau schon solange sie lebt. Wir müssen uns nicht erst kennenlernen wie die meisten Paare.«
Wieder herrschte lange Stille. Dann räusperte Sinclair sich und murmelte: »Da mögen Sie recht haben, aber ... ich dachte mehr an das, was, wie wir alle wissen, oft geschieht, wenn ein Ehemann seiner attraktiven, jungen Ehefrau nicht die gewünschte und angemessene Aufmerksamkeit schenkt.«
Charlie rührte sich nicht. Es kostete ihn all seine Willenskraft, seine heftige Reaktion auf das von Malcolm entwickelte Szenario zu unterdrücken. Sarah würde das nie tun, dachte er. Wollte Sinclair etwa andeuten ...
Dann hörte er im Geist wieder Malcolms fast schüchternen Ton und verwarf seinen Verdacht. Der Mann hatte, wie wahrscheinlich jeder Freund es getan hätte, versucht, ihn, Charlie, zur Einsicht zu bringen ...
Er drehte sich zu Sinclair um. »Ich sollte aufbrechen - es wird bald dunkel.«
Malcolms Miene war so unbewegt wie die seine. Er stand auf und begleitete Charlie zur Haustür. Sie schüttelten sich die Hand, Charlie ging die Treppe hinunter zu Storm, band sein Pferd von dem Baum los, führte es auf die Straße und schwang sich in den Sattel, hob grüßend die Hand und ritt davon.
Auf dem Weg durch Crowcombe blickte er stur geradeaus, zwang sich, nicht zum Waisenhaus hinaufzuschauen. Aber er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob Sarah wohl schon auf dem Heimweg war. Selbst wenn, würde sie nicht auf der Straße, sondern querfeldein reiten. Kaum hatte er die letzten Häuser hinter sich gelassen, trieb Charlie Storm zum Galopp an. Er wollte schnell nach Hause, um sich zu vergewissern, dass Sarah wohlbehalten zurückgekommen war und sich wieder unter seinem Schutz befand.
Am nächsten Tag besuchte Sarah das Waisenhaus wieder, um zu erfahren, ob ihre Falle sich bewährt hatte. Sie hatte. Kurz vor Mitternacht hatten die Glocken geläutet. Kennett, Jim und Joseph waren ins Freie gelaufen, sahen jedoch nur noch eine weiß gekleidete Gestalt über das Nordfeld flüchten, auf ein wartendes Pferd springen und davonreiten.
Die Kinder waren erleichtert und glücklich; viele von ihnen hatten das »Gespenst« fliehen sehen. Die meisten betrachteten den Vorfall jetzt als ein zu ihrer Unterhaltung aufgeführtes Schauspiel. Es würde keine schlaflosen Nächte mehr geben.
Erst auf dem Rückweg kehrten Sarahs Gedanken zu ihrem Problem zurück. Die Stunden im Waisenhaus, sowohl gestern als auch heute, hatten sie beruhigt, dass sie gebraucht wurde, dass man ihre Idee gewürdigt und in die Tat umgesetzt hatte, und nicht zuletzt der Erfolg ihres Plans waren Balsam für ihre Seele gewesen.
Auf Morwellan Park angelangt, übergab sie Blacktail dem Stallburschen und machte sich auf dem Weg zum Haus Gedanken über den einen Punkt in dem Drama, der ihr merkwürdig vorkam. Sie waren sicher gewesen, dass es ein Junge war, der ihnen diese Streiche spielte, aber Kennett, Jim und später auch Joseph hatten auf genaueres Befragen die Gestalt eines Mannes beschrieben - kräftig, mittelgroß, eindeutig kein Halbwüchsiger.
Warum sollte ein erwachsener Mann als »Gespenst« um das Waisenhaus herumschleichen?
Die anderen hatten mit den Schultern gezuckt. Kennett meinte schließlich, dass der Mann »vielleicht nicht ganz richtig im Oberstübchen« wäre, aber Sarah glaubte nicht daran. Das Leintuch, die Kette, die
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