Sturm der Verfuehrung
nächtliche Stunde des Auftauchens, all das deutete auf eine sorgfältige Planung hin, die nicht zu jemand passte, der »nicht ganz richtig im Oberstübchen war«.
Noch immer grübelnd betrat sie das Haus und begab sich in ihr Wohnzimmer. Dort zog sie ihre Handschuhe aus und läutete nach Tee. Er kam umgehend - und zu ihrer großen Überraschung kam Charlie mit.
Begleitet von ihrem verwunderten Blick setzte er sich in den Sessel, in dem er sonst abends saß, und ließ sich eine Tasse reichen.
Sarah nahm mit ihrer auf der Chaiselongue Platz und nippte an ihrem Tee.
Der Lakai zog sich zurück, und Charlie fragte, ohne sie anzusehen: »Wie stehen die Dinge im Waisenhaus?«
A-ha. Sie war versucht, die Geschichte hervorzusprudeln und ihn zu fragen, welche Erklärung er dafür hatte, dass es sich bei dem »Gespenst« offenbar um einen Erwachsenen handelte, doch sie hatte Charlies Worte vom Morgen noch zu deutlich in Erinnerung, und sie taten noch immer weh. Also zuckte sie, die Augen auf ihre Tasse gesenkt, mit den Schultern und antwortete: »Ganz gut.«
Sie trank ihren Tee aus, stellte die Tasse beiseite und zog sich den Korb mit der Flickwäsche heran. Als sie eine weitere Decke mit einem Loch darin fand, hob sie sie auf ihren Schoß und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe.
Trotzdem spürte sie Charlies Blick auf ihrem Gesicht. Eine Minute verging. Dann trank auch er seinen Tee aus, stand auf, stellte die Tasse nebst Untertasse auf das Tablett und verließ wortlos das Zimmer.
Über ihre Flickarbeit gebeugt, hörte Sarah seine Schritte auf dem Korridor leiser werden. Dann wurde die Tür zur Bibliothek geöffnet und eine Sekunde später geschlossen.
Am Samstagmorgen hatte Sarah mit Figgs gerade die Festlegung der Speisenfolgen für die kommende Woche beendet, als Crisp mit seinem Silbertablettchen ins Wohnzimmer trat.
»Eine Nachricht vom Waisenhaus, Ma’am. Der Junge, der sie gebracht hat - Jim -, wartet draußen, falls Sie eine Antwort schicken wollen.«
Sarah nahm das Blatt und unterdrückte ein instinktives »Oje, was ist denn jetzt wieder?«
Katys Zeilen bestätigten, dass Sarahs Instinkt richtig gewesen war. »Gütiger Gott!«
»Gibt es ein Problem, Ma’am?«
Sarah blickte in das besorgte Gesicht hinauf. »Irgendein ... Unhold hat Salz in den Brunnen geschüttet.«
Es fielen ihr noch ein paar andere Bezeichnungen ein, doch »Unhold« würde genügen müssen.
»Du liebe Güte.« Der Butler runzelte die Stirn. »Aber warum?«
Sarah faltete das Blatt zusammen und steckte es ein. »Wie es scheint, ist jemand darauf aus, dem Waisenhaus Schwierigkeiten zu bereiten. Ich muss hinreiten und sehen, wie schlimm es ist. Bitte sagen Sie Jim, er soll auf mich warten - ich muss mich nur schnell umkleiden.«
Crisp verbeugte sich, und sie eilte hinaus. Zehn Minuten später war sie in Jims Begleitung, der auf einem kräftigen Pferd saß, unterwegs nach Norden. Als sie ankamen, hatte sie sich überlegt, wie sie die momentane Notlage überbrücken konnten.
»Wir werden von Wilson Wasser in Fässern heraufbringen lassen«, erklärte sie Katy, als sie Blacktail an der Stange neben dem Eingang anband. Wilson war der Fuhrmann aus Crowcombe. »Ich reite auf dem Heimweg bei ihm vorbei, sage ihm, dass er Wasser aus dem Brunnen von Conningham Manor holen kann, und besuche anschließend meine Eltern. Ich bin überzeugt, dass sie nichts dagegen haben, und dort gibt es reichlich Fässer, sodass keine Wasserknappheit entstehen wird.«
Katy nickte. »Gut. Kommen Sie und sehen Sie es sich an. Kennett meint, es könnte schlimmer sein, sei aber schlimm genug.«
Auf dem Weg durchs Haus lächelte Sarah den Kindern ermutigend zu und folgte Katy dann zu dem gemauerten Brunnen hinter dem Nordflügel.
Kennett starrte düster in den tiefen, dunklen Schacht. Als Sarah neben ihn trat, hob er den Kopf. »Der Kerl hat einen Zehn-Pfund-Sack da reingeschüttet«, grollte er und deutete auf einen Jutesack, der neben dem Brunnen lag. »Und dann hat er ihn auch noch liegen gelassen, damit wir ihn finden.« Er versetzte dem Sack einen Tritt. »Zum Glück ist wegen der kalten Witterung der Schnee auf den Hügeln noch nicht geschmolzen. Der Wasserspiegel steigt zwar bereits, aber wenn das Tauwetter einsetzt, wird, obwohl wir hier hoch liegen und der Brunnen tief ist, durch die Wände eine Menge Wasser hereinsickern. Sehen Sie das?«
Er deutete auf die Innenwand des Brunnens, und Sarah sah, dass die Steine tatsächlich nass waren, obwohl der
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