Sturm im Elfenland
geschehen?«, fragte der Elf, ohne sie loszulassen. »Du siehst aus, als hätte dich jemand geärgert.«
Alana strich die Haare aus dem Gesicht und bemühte sich um eine würdevolle Haltung. »Danke, es geht mir gut«, sagte sie.
Der Elf nickte und wischte sich in einer unbewussten Nachahmung ihrer Geste eine Locke aus der Stirn. »Du bist sicher?«
»Ach, Erramun«, brach es aus ihr heraus, »ich kann ihn nicht leiden!«
»Ivaylo?«, fragte er verständnisvoll. Alana lächelte ihn an, ihre schlechte Laune schmolz dahin. Erramun war anders als die anderen, behandelte sie nie, als wäre sie ein Kind, und er gab auch nie vor, nicht zu verstehen, was sie meinte.
»Sollen wir uns darüber unterhalten?«, fragte er.
Alana nickte. Er deutete auf die Bibliothek und machte eine einladende Handbewegung, dann bot er ihr höflich seinen Arm.
Alana schritt neben ihm her und fühlte sich wie eine Elfendame, die ihr Kavalier zu einem Ball oder festlichen Mahl geleitet. Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er sah gefährlich gut aus und bewegte sich mit der Eleganz einer Katze. Erramun hatte die Erscheinung eines Elfenritters, eines königlichen Jägers oder Edlen, aber in Wirklichkeit war er nur Gondiars Bibliothekar und der Hauslehrer seiner Kinder.
»Setz dich irgendwohin, ich muss für deinen Vater noch eben etwas heraussuchen«, sagte er, als er die Tür hinter ihnen schloss. Alana sah sich in dem altvertrauten Raum voller Bücher um, als wäre sie zum ersten Mal hier.
Gondiars Haus war ein lichtdurchströmter, heller Ort mit Außenwänden, die zum Garten hin nur im Winter geschlossen waren. Fast das ganze Jahr flatterten Schmetterlinge ungehindert durch die Räume, man hörte das Rauschen des Laubs und den Gesang der Vögel. Im Gemeinschaftszimmer nistete in jedem Frühjahr ein Meisenpärchen in dem Schrank mit der Tischwäsche, und Igel wanderten raschelnd und schnaufend durch die Zimmer, auf der Suche nach etwas Essbarem.
Die Bibliothek schien zu einer vollkommen anderen Welt zu gehören. Regalwände bis zur Decke beherbergten dicke Bücher, dünne Bücher, kleine und große Bücher, gedruckte und handgeschriebene Bücher, Folianten, Atlanten, Broschüren, Biografien, Historien, Schmöker, Bücher über Heilung und Botanik, Arzneien und Astronomie, Wahrsagen und Kartenlegen, Pferdekrankheiten und Vogelzucht, Bücher mit Zeichnungen und Reiseberichten, Märchen und Kochrezepten, Werke über Philosophie und Medizin, Mathematik und Architektur, Genealogie, Politik, Krieg, Schwertkampf, höfische Etikette, sentimentale Romane und lehrreiche Fabeln, Bücher zu Malerei und Musik ... kurz, eine ganze Welt auf Papier und Pergament, in Leder und Holz gebunden, geheftet, gerollt, gefaltet und genäht.
Aber nicht nur die deckenhohen Regale bogen sich unter der Last der Bücher, auch auf dem Boden türmten sich gefährlich zur Seite geneigte Stapel, überall standen Kisten, aus denen Bücher herausschauten, die Tische waren unter all dem Papier nicht mehr zu sehen, und jede einzelne Sitzfläche war belegt mit Büchern, die darauf warteten, einen Platz im Regal zugewiesen zu bekommen.
Licht kam durch zwei große Fenster, die aber zum Schutz der wertvolleren Bücher so verhängt waren, dass nur diffuses Licht hereinsickern konnte. Selbst bei Tag brannte deshalb eine Kugel Feenlicht auf einem der Tische.
Alana mochte den trockenen Geruch von Papier und Staub, der so anders war als die frische Luft, die sie überall sonst atmete. Sie schob einen unordentlichen Bücherhaufen auf dem alten Sofa beiseite, wobei ein paar Bücher zu Boden polterten, und ließ sich in die durchgesessenen Polster sinken.
Erramun wanderte an den Regalen entlang, musterte die Buchrücken und zog hier und da einen Band heraus. Der Stapel in seinem Arm wuchs. Alana betrachtete ihn ungeniert. Der Elf hatte seine kupferbraunen Locken nachlässig zu einem Zopf geschlungen, der ihm über die Schulter baumelte. Seine helle Stirn leuchtete im Halbdunkel der Bibliothek, und das Feenlicht, das gehorsam neben seiner Schulter schwebte und jeden seiner Schritte begleitete, ließ seine schräg stehenden grünen Augen geheimnisvoll funkeln.
Alana unterdrückte einen Seufzer. Zu Erramuns Aufgaben gehörte es, sie und ihren Bruder zu unterrichten. Er war der freundlichste, geduldigste und aufmerksamste Hauslehrer, den man sich nur vorstellen konnte, und noch dazu war er unglaublich klug. Alana wusste, dass er jedes Buch hier in der Bibliothek gelesen hatte und
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