Sturm ueber Cleybourne Castle
die Veseys auf diese Weise endgültig losgeworden zu sein, erwies sich als trügerisch. Nur wenige Minuten später wurde die Tür erneut -diesmal sogar ohne ein höfliches Klopfen - geöffnet, und Lady Vesey glitt über die Schwelle. Sekundenlang starrte Richard sie reglos an. Sie hatte sich schon ausgekleidet und trug jetzt nur irgendein blassgrünes Fähnchen, das so durchsichtig war, dass man die dunklen Spitzen ihrer Brüste erkennen konnte. Selbstverständlich war es auch so weit ausgeschnitten, dass ihr von dem Mieder hochgeschnürter Busen einladend enthüllt wurde. Ihr Haar war in kunstvolle Locken frisiert, und eine Strähne fiel neckisch in den engen Spalt zwischen den Brüsten.
„Richard!" rief sie in gespielter Überraschung. „Ich ahnte nicht, dass Sie noch wach sind. Ich wollte mir nur ein Buch holen." Sie schlenderte durch den Raum und wiegte sich dabei herausfordernd in den Hüften. „Manchmal habe ich nämlich Schwierigkeiten, einzuschlafen."
„So, haben Sie das?" Richard erhob sich, ging zu dem Klingelzug und zog energisch daran. „Ich benutze allerdings mein Arbeitszimmer nicht zum Lesevergnügen, sondern für nützliche Tätigkeiten. Die Bücher befinden sich neben der Halle in der Bibliothek. Ich werde einen Diener beauftragen, Sie dorthin zu führen."
Leona erwiderte mit einem kehligen Lachen. „Sie sind einfach entzückend, Richard." Sie kam näher und legte ihm die Hand auf die Brust. „Ich brauche aber keinen Diener. Es wäre mir lieber, wenn Sie mich begleiten würden."
„Bedaure, aber ich wollte gerade zu Bett gehen."
„Wirklich? Das klingt aufregend." Lady Vesey sah zu ihm auf, und in ihrem Blick lag ein wollüstiges Versprechen. „Hätten Sie dabei nicht gern Gesellschaft?"
„Ich pflege, allein zu schlafen, Lady Vesey."
In diesem Augenblick trat der Kammerdiener auf Cleybournes Klingelzeichen hin ein. „Euer Gnaden wünschen?"
„Ah, Noonan! Lady Vesey kann nicht schlafen. Sorgen Sie dafür, dass sie ein Glas warme Milch bekommt, und zeigen Sie ihr den Weg zur Bibliothek."
„Sofort, Euer Gnaden."
„Nun denn. Bestimmt werden Sie jetzt leichter einschlafen, Mylady. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht." Cleybourne deutete eine Verbeugung an, wandte sich um und verließ das Zimmer. Sprachlos starrte Lady Vesey ihm nach.
Jessica und Gabriela verbrachten den nächsten Vormittag beim Unterricht im Schulzimmer. Beide hofften, dass sich die Veseys bis zur Mittagszeit bereits auf den Weg nach London gemacht hätten. Es war schon fast zwölf Uhr, und Gabriela wurde es langsam müde, unregelmäßige französische Verben zu konjugieren, als sie von einem markerschütternden Schrei aufgeschreckt wurden.
Die beiden liefen Hals über Kopf auf den Korridor und hörten von der Halle her eine Männerstimme rufen: „Zu Hilfe! Helft mir doch! Leona, mein Liebling, ist alles in Ordnung?"
Die einzige Antwort war ein unterdrücktes Stöhnen. Misstrauisch geworden, streifte Jessica ihren Schützling mit einem sorgenvollen Blick, bevor sie mit dem Mädchen an der Hand zum Treppenabsatz ging. Als sich beide neugierig über das Geländer beugten, sahen sie Leona Vesey am Fuße der Treppe liegen. Neben ihr kniete Lord Vesey und tätschelte beruhigend ihre Hand.
In diesem Augenblick kamen zwei Lakaien herbeigeeilt, und nun erschien auch der Duke und fragte ärgerlich: „Was geht denn hier vor? Wer hat geschrien?"
Ratlos starrten die Diener auf die dahingesunkene Gestalt der Dame, die jetzt den Augenblick für gekommen hielt, um stöhnend den Kopf zu heben.
„Was ... was ist geschehen?" stammelte sie.
„Du bist gestürzt, meine Liebe", gab Lord Vesey ihr das passende Stichwort. „Wir wollten gerade aufbrechen, und du bist vielleicht ein wenig zu hastig die Stufen hinabgestiegen. Dabei bist du ausgerutscht und zu Fall gekommen. Wir müssen Gott dankbar sein, dass du noch am Leben bist."
Richard trat auf die beiden zu und beugte sich hinab. „Können Sie aufstehen, Lady Vesey?"
„Ich ... ich glaube schon." Mit einer theatralischen Geste griff Leona sich an den Kopf. „Mir ist ein wenig schwindlig. Helfen Sie mir doch, Richard."
Sie streckte dem Hausherrn die Hand entgegen, und als dieser ihr seinen Arm bot, legte sie sich geschickt hinein, sodass es aussah, als halte er sie umfangen. Langsam zog Cleybourne sie empor. Doch als sie endlich wieder auf den Füßen stand, fasste sie sich erneut an den Kopf und sank stöhnend an seine Brust.
„Nur einen Augenblick", murmelte sie und
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