Sturm ueber Cleybourne Castle
erzählt. Sogar entschuldigt hat er sich. Er hat gesagt, er sei wohl ziemlich grob gewesen und müsse das wieder gutmachen. Können Sie sich das vorstellen?"
Vor Freude war das Mädchen ganz aufgeregt. Seine Wangen glühten, und die Augen blitzten. Es schien seine frühere Lebhaftigkeit wieder gefunden und für einen Moment die ganze Sorgenlast abgeschüttelt zu haben. Angesichts dieser unverhohlenen Glückseligkeit musste Jessica lächeln. „Er hat genau das getan, was er tun musste", erwiderte sie ruhig. „Und das war gut so."
„Er war auch gar nicht eingebildet, wie man es von einem Duke doch eigentlich erwartet hätte, nicht wahr?" fuhr Gabriela begeistert fort. „Er ist weder stolz noch selbstgefällig, nur traurig. Er hat mir von seiner Tochter erzählt, und dass er geglaubt hatte, ich würde ihn immer an seinen Verlust erinnern. Aber er hat mich ja trotzdem zu dem Spaziergang eingeladen. Glauben Sie, dass er seine Meinung nun ändert und wir hier bleiben dürfen?" fragte sie mit einem hoffnungsvollen Blick auf ihre Gouvernante.
Zögernd hob Jessica die Schultern. „Ich weiß es nicht. Lady Westhampton ist ja überraschend gekommen. Ich vermute, dass der Duke sie und ihren Mann bitten wollte, die Vormundschaft zu übernehmen. Vielleicht wird er sie in den kommenden Tagen darauf ansprechen."
„Lady Westhampton scheint sehr freundlich zu sein. Ich würde aber doch lieber in Cleybourne Castle bleiben. Sie nicht auch? Ich mag den Duke nämlich."
„Lady Westhampton müsste ohnehin erst mit ihrem Mann darüber sprechen, bevor sie eine Antwort geben würde. Darüber können ein paar Wochen vergehen, und in dieser Zeit ändert der Duke vielleicht seine Meinung." „Ach, das wäre schön!"
Jessica sah ein, dass es unter diesen Umständen nicht viel Sinn hatte, den Unterricht heute noch fortzusetzen. Sie gestattete Gaby, bis zum Abendessen zu lesen. Sie selbst nahm die französische Grammatik zur Hand, um die morgige Lektion vorzubereiten, merkte jedoch bald, dass auch sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Deshalb fing sie an, den ausgerissenen Saum eines Unterrockes auszubessern. Diese Tätigkeit verlangte ihr keine große Aufmerksamkeit ab und gab ihr die Möglichkeit, die Ereignisse des Nachmittags noch einmal zu überdenken.
Zu ihrer Überraschung klopfte jedoch kurze Zeit später ein Lakai an ihre Tür und überbrachte ihr ein kurzes Handschreiben des Duke, worin er sie bat, am heutigen Abendessen teilzunehmen. Sie hatte angenommen, dass Cleybourne sie nicht mehr als Ablenkung für die Veseys brauchte, seit seine Schwägerin im Hause war.
Ihr Erstaunen wurde jedoch noch größer, als nur wenig später Lady Westhampton persönlich in Begleitung einer Zofe erschien, die einige Kleider mitbrachte und auf Jessicas Bett ausbreitete.
„Sie sind doch heute Abend mit am Tisch, nicht wahr?" wandte Rachel sich an die verdutzte Jessica.
„Ja, ich werde offensichtlich dort erwartet. Aber ich begreife wirklich nicht, wozu das nötig sein soll."
„Das ist doch sehr einfach, meine Liebe. Wenn Leona Vesey anwesend ist, werden so viele Tischgäste wie nur möglich gebraucht. Sie wird nämlich trotz ihres angeblich gebrochenen Knöchels das ganze Speisezimmer beherrschen und vor allem Richard völlig mit Beschlag belegen wollen. Das ist ihre Art, und darin bleibt sie sich immer treu. Ich hätte dann keinen anderen zur Unterhaltung als Lord Vesey. Deshalb habe ich darauf bestanden, dass Sie unbedingt dabei sein müssen, damit ich ein vernünftiges Tischgespräch führen kann."
„Ach, so ist das", erwiderte Jessica lächelnd, obwohl sie enttäuscht darüber war, dass nicht der Duke, sondern Lady Westhampton ihre Anwesenheit gewünscht hatte.
„Ich nehme an, dass Sie keine passende Kleidung für ein formelles Abendessen mitgebracht haben", fuhr Rachel fort.
„In ... in der Tat." Ein wenig verdrossen dachte Jessica an ihr bestes schwarzes Kleid, in dem sie sich neben der aufgeputzten Lady Vesey wie eine Krähe ausnehmen würde.
„Deshalb möchte ich Ihnen eines meiner Kleider ausleihen."
„Aber ich kann doch nicht ..."
„Aber natürlich können Sie das. Im Übrigen sind Sie die Erste, der ich ein solches Angebot mache, denn Sie sind genauso groß wie ich und können meine Sachen ohne Weiteres tragen. Und da Sie das Opfer auf sich nehmen, sich durch ein Abendessen mit Lord und Lady Vesey zu quälen, nur um mich zu unterhalten, ist es nur recht und billig, dass ich mich dafür erkenntlich
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