Sturm über Freistatt
verstand, wohl aber jemanden, der bloß schnell noch vor Sonnenuntergang leichte Beute machen wollte.
»Papa – ich bin es!« Der Schatten hinter ihm hielt in einiger Entfernung an. Lalo blinzelte und erkannte Wedemir, dessen Gesicht vom Laufen zwar etwas gerötet war, der jedoch gleichmäßig atmete.
Der Junge ist gut in Form, dachte Lalo mit flüchtigem Stolz. Er entspannte sich, richtete sich von seiner Abwehrstellung auf und schob die Klinge in ihre Scheide zurück.
»Wenn deine Mutter dich geschickt hat, kannst du gleich wieder umkehren!«
Wedemir schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht. Sie sagte, wenn ich hinter dir herlaufe, will sie auch von mir nichts mehr wissen! Wohin gehst du denn eigentlich?«
Lalo starrte ihn an. Wedemirs Unbekümmertheit erschreckte ihn. Begriff der Junge denn nicht? Zwischen ihm und seiner Mutter war es aus für immer! Die Zukunft lag vor ihm wie eine atemberaubende, von Blitzen leuchtende Wolke.
»Lauf heim, Wedemir«, riet er ihm. »Ich gehe zum Wilden Einhorn.«
Wedemir lachte, und die weißen Zähne hoben sich blitzend von der sonnengebräunten Haut ab. »Papa, ich bin jetzt bereits zwei Jahre mit Karawanen unterwegs, hast du das vergessen? Glaubst du, ich war noch nie in einer Kaschemme?«
»Bestimmt noch in keiner wie dem Wilden Einhorn«, brummte Lalo.
»Dann wird es Zeit, daß du meine Ausbildung vervollständigst«, meinte der Junge vergnügt. »Wenn du stärker bist als ich, dann schlag mich jetzt nieder. Wenn nicht, ist es in diesem Viertel gewiß für zwei sicherer als für einen!«
Eine neue Art von Ärger machte sich in Lalos Magen bemerkbar, als er seinen Sohn betrachtete und ihm die sichere Haltung und der feste Blick bewußt wurden. Er ist erwachsen, dachte er verbittert und erinnerte sich an das letzte Mal, als er den Jungen versohlt hatte; das erschien ihm noch gar nicht solange herzusein. Wedemir ist ein Mann! Aber ihr Götter, hatte ich je so arglose Augen? Ein Mann, und ein starker noch dazu … Selbst in Wedemirs Alter war Lalo nicht gerade ein Kämpfer gewesen, und jetzt … Der Gedanke, daß sein Sohn ihn schlagen könnte, stieg ihm wie Galle auf.
»Na gut«, sagte Lalo schließlich. »Aber gib mir nicht die Schuld, wenn nicht alles nach deiner Erwartung verläuft!« Er drehte sich zum Weitergehen um, hielt jedoch noch einmal an. »Und um Shalpas willen, wisch dir dieses Grinsen vom Gesicht, ehe wir hineingehen!«
Lalo neigte den Krug, und der letzte Schluck des sauren Weines rann die Kehle hinab. Dann schlug er die Faust auf den Tisch und bestellte noch einen Krug. Es war lange her, daß er sich im Wilden Einhorn hatte vollaufen lassen – überhaupt eine lange Zeit, daß er sich irgendwo betrunken hatte. Vielleicht würde der Wein besser schmecken, wenn er mehr davon trank.
Wedemir hob flüchtig eine Braue. Er nahm einen weiteren, gemessenen Schluck seines Bieres und setzte den Krug wieder ab. »Also bisher habe ich noch nichts gesehen, was mich schockieren könnte.«
Lalo schluckte seinen aufsteigenden Groll über die Selbstbeherrschung des Jungen. Vermutlich verachtet er mich. Als Ältester hatte er sicher mitbekommen, wie es damals war, als Lalo versucht hatte, seine Sorgen in Wein zu ertränken, und Gilla für andere gewaschen hatte, um die Familie zu ernähren. Und während der letzten Jahre des Wohlstands war Wedemir mit den Karawanen unterwegs gewesen. Kein Wunder, wenn er seinen Vater für einen Säufer hielt!
Er versteht nicht … Lalo streckte der dünnen Schankmaid den Krug entgegen. Er weiß nicht, was ich durchgemacht habe!
Der kühle, beißende Wein linderte den Schmerz in seiner Kehle, und Lalo rutschte seufzend zurück. Wedemir hatte recht, was das Einhorn betraf. So einen ruhigen Abend hatte Lalo hier noch nie erlebt. Die vom Alter glatten Bretter der Nische knarrten, als er sich dagegen lehnte. Er schaute sich in der großen Gaststube um und versuchte die veränderte Atmosphäre zu verstehen.
Der vertraute Geruch von Schweiß und saurem Bier weckte Erinnerungen; Öllampen warfen tanzende Schatten auf die rußigen Deckenbalken und die massiven Tische darunter. Leere Tische zumeist, selbst jetzt, da die Nacht sich bereits über Freistatt gesenkt hatte und es hier von Gästen wimmeln sollte, wie Flöhe auf einem Basarköter. Nicht, daß das Einhorn außer ihnen völlig leer war. Er erkannte den bleichen, narbengesichtigen Burschen, der sich Zip nannte. Er saß in einer Nische auf der gegenüberliegenden Stubenseite mit
Weitere Kostenlose Bücher