Sturm über Freistatt
Künstler, er versuchte Lieder zu machen, die Platz in den Herzen der Menschen fanden. Was würde er davon halten? Die Versuchung, seinen alten Freund zu beeindrucken und seinen Sohn dazu zu bringen, daß er sich schämte, überwältigte ihn schier.
So griff Lalo in seinen Beutel, kramte unter den paar Münzen, die noch übrig waren, und holte einen Holzkohlestift heraus und ein abgegriffenes Stückchen Zeichenblei.
»Kein Papier«, stellte er nach einer Weile seufzend fest.
»Benutz doch die Wand«, riet ihm Cappen Varra, dessen Augen herausfordernd glänzten. Er deutete auf die schmutzige Tünche, die von eingeritzten Initialen und gekritzelten Obszönitäten verunstaltet war. »Ein hübsches Bild kann nicht schaden – ich bin sicher, Eindaumen hat nichts dagegen.«
Lalo nickte und blinzelte mehrmals. Er wünschte sich, dieser Schleier würde von seinen Augen verschwinden. Wein hatte noch nie zuvor eine solche Wirkung auf ihn gehabt – ihm war, als starre er durch das schmutzige Wasser im Hafen auf den Grund, der mit allem bedeckt war, was die Kanalisation aus der Stadt abgeladen hatte.
Um hochzukommen mußte er sich mit den Knien gegen die Wand stützen. Cappen Varra begann Interesse zu zeigen, aber Wedemirs Miene verriet, daß er sich seines Vaters schämte. Dir werde ich es zeigen! dachte Lalo und blickte auf die Wand. Was sollte er zeichnen? Der flackernde Lampenschein fiel auf die Unebenheiten und malten eine lange Kurve da und einen riesigen Schatten dort, fast wie …
Ja, das war es, was er ihnen geben würde: ein Einhorn! Immerhin hatte er ja auch das Aushängeschild draußen gemalt. Er spürte, wie die vertraute Konzentration sein Gesichtsfeld verengte, als er die Hand hob. Fast konnte er sich einbilden, er sei zu Hause in seinem Atelier und male ein Wandgemälde nach einem Modell, wie er es schon so oft getan hatte.
Lalo ließ den anderen Teil seines Gehirnes übernehmen und seine Hand lenken – diesen verborgenen Teil, der die Welt in Zusammenhängen von Licht und Dunkel sah, von Masse, Beschaffenheit und Schnitt, und der behielt, was er sah. Und während seine Hand sich bewegte, griff sein Bewußtsein nach außen, um die Seele des Modells in das Bild zu ziehen, auch das, wie schon so oft zuvor. Das Einhorn – ein Phantasie-Einhorn? Nein, das Wilde Einhorn, selbstverständlich – die Seele des Wilden Einhorns …
Lalos Hand zuckte und hielt inne. Er schauderte, als unwillkommenes Wissen auf ihn eindrang. Hier in dieser Nische hatte ein Mann vor noch gar nicht so langer Zeit sein Leben verloren – sein Blut floß unter dem geschickten Streich einer Klinge. Er hatte gekämpft, und Blut war an die Wand gespritzt – dieser Flecken, den Lalo bisher für Ruß gehalten hatte. Ohne seinen Willen fuhr die Kreide um ihn herum und fügte ihn als dunkleren Schatten in das Ganze ein.
Und nun brachen weitere Eindrücke auf Lalo ein: die stechende Furcht von Menschen, die die Razzia der Beysiber überrascht hatte, ein verschlungenes Wirbeln, das den Namen der Hexe Roxane wiedergab. Aber es mußte doch selbst hier Humor gegeben haben! Gewiß hatte die Schenke auch fröhliche Stunden gesehen, genug um dem Kopf des Einhorns eine gewisse schräge Haltung zu geben und seinem Auge ein bißchen verschmitzten Spottes. Aber es gab nicht viele solche Augenblicke, die ihm Modell stehen konnten, und aus letzter Zeit überhaupt keine.
Rascher, immer rascher bewegte sich des Künstlers Hand. Sie bedeckte die Wand mit ineinander überlaufenden Figuren, und die Umrisse, die sie hielten, verzerrten sich. Da war das Gesicht einer Frau, die in einer der oberen Kammern zu Tode geschändet worden war; dort die verzweifelt verkrampften Hände eines Mannes, von den Kupferstücken beraubt, die seine Familie gerettet hätten. Fieberhaft zeichnete die Holzkohle die Züge von Haß, Hunger, Verzweiflung …
Lalo war sich nur vage der Anwesenheit von anderen um ihn herum bewußt. Nicht nur Cappen Varra und Wedemir blickten ihm erschrocken über die Schulter, auch die Gäste von den Nebentischen und sonstwo in der Gaststube, ja sogar Nachtschatten.
»Das ist Lalo, der Maler, nicht wahr? Der Künstler, der alle Wandgemälde im Palast gemalt hat«, sagte jemand.
»Vielleicht hat Eindaumen ihm den Auftrag erteilt, seine Wände zu verschönern?«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, entgegnete die erste Stimme. »Was malt er da überhaupt? Scheint irgendein Tier zu werden.«
Lalo hörte es kaum. Er wußte nicht, wer inzwischen die
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