Sturm über Freistatt
vermocht. Ihre Schulter pochte vor Schmerzen durch das Gewicht Artons. Das Gefühl, das nicht ganz Gesicht war, führte sie zu einem offenen Raum. Dort kauerte sie sich in eine Ecke, wo sie vor Wind und Regen und Blicken von Vorübergehenden geschützt war. Tränen rannen über ihre Wangen, als die Erschöpfung ihr gnädigen Schlaf schenkte.
»Barbaren!«
Illyra erwachte und hörte das Echo eines schrillen Schreis. Der Sturm war vergangen und hatte Platz für einen strahlend blauen Himmel gemacht. Nur noch ein Hauch von Rauch hing in der Luft. Vor ihr spielte sich der Streit eines Paares ab, das sie zwar deutlich sehen konnte, während sie, dank des Musters von heller Sonne und bewegten Schatten in ihrer Ecke, von den beiden nicht bemerkt wurde. Und das war auch gut so, denn die Frau war dem Akzent nach eine Beysiberin, obwohl sie ein züchtiges, rankanisches Gewand trug, und der Mann war Prinz Kadakithis höchstpersönlich. Illyra drückte Arton fest an sich und war im Augenblick fast froh, daß er sich nicht regte und keinen Laut von sich gab.
»Barbaren! Haben wir nicht unseren Hof geöffnet, während der Sturm tobte, und uns ihre Klagen angehört? Haben wir ihnen nicht persönlich versichert, daß die Sonne schon öfter verschwand und stets wiederkommt? Und daß die Stürme, wovon sie auch immer verursacht werden, nichts mit der Sonne zu tun haben? Haben wir nicht gestattet, daß sie ihre schmutzstarrende Habe auf den Vorhof des Palastes retten?
Und habe ich mich nicht in wahre Stoffmassen gekleidet und mein Haar hochgesteckt, damit sie in mir ihre sittsame Kaiserin sehen?«
Illyra schluckte, als Kittycat den Kopf schüttelte. »Shu-sea, ich fürchte, du hast Lord Molin mißverstanden.«
Die Beysa Shupansea, Avatar der Mutter Bey und absolute, obgleich augenblicklich im Exil lebende Kaiserin des Alten Beysibischen Reiches, wandte dem Prinzen ihren kaiserlichen Rücken zu. Trotz ihrer Ehrfurcht, ja Furcht mußte Illyra Kittycat recht geben: Gewiß, Shupanseas Haar und Gewand waren die einer über jeglichen Tadel erhabenen rankanischen Edlen; aber ihr Gesicht hatte sie nach beysibischer Art geschminkt, und das halb durchscheinende, schimmernde Grün von Haaransatz bis zum Halsausschnitt betonte ihre wahre Herkunft.
»Dein Hohepriester hält zuviel als unerläßlich«, beklagte sich Shupansea und warf den Kopf zurück. Eine Locke löste sich aus ihrer kunstvollen Frisur, dann eine zweite, und schon kroch eine smaragdgrün schillernde Schlange ihren Hals hinunter und an der Schulter unter das Gewand. Seufzend lockte die Beysa die Schlange auf ihren Unterarm.
»Molin ist eben der Meinung, daß es unter den Freistättern eine Art Einigkeit gibt, wie nie zuvor, seit sie die Beysiber und vor allem dich als Invasoren ansehen, als Menschen, die so ganz anders sind als sie. Ihr Haß, ihre Gewalttätigkeit ist gegen euch gerichtet, nicht mehr gegeneinander«, erklärte der Prinz. Er streckte die Hand nach der Beysa aus, da zischte die smaragdgrüne Schlange. Er zog die Hand zurück und saugte kurz an einer Fingerspitze.
Shupansea ließ die Schlange in eine blühende Kübelpflanze gleiten. »Molin dies – Molin das. Du und er, ihr redet, als hättet ihr diese Barbaren gern. Ki-thus, sie mögen dich und die deinen genausowenig, wie sie mich und die meinen mögen. Auf dem Reichsthron sitzt statt dir ein Usurpator, und seine Agenten schleichen durch die Gassen dieser schrecklichen kleinen Stadt. Nein, Ki-thus, die Zeit ist gekommen, ihnen nicht zu zeigen, wie gnädig wir sind – sondern wie erbarmungslos. Sie haben uns bis an den Rand gedrängt. Weiter lassen wir es nicht zu.«
»Aber Shu-sea.« Nun, da die Schlange weg war, ergriff er ihre Hände. »Das ist genau, was Molin versucht hat, dir zu erklären. Wir wurden tatsächlich bis an den Rand gedrängt, aber wir waren nie sehr weit davon entfernt. Dein Burek-Clan ist hier im Exil und hofft, die Heilige Mutter Bey wird ein Ende mit deinem thronräuberischen Vetter machen. Alles, was wir haben, ist Freistatt – aber wir müssen die Freistätter überzeugen, daß es einen Grund für sie gibt, auch uns haben zu wollen. Sprich mit deinem Geschichtenerzähler, wenn du nicht auf mich oder Molin hören willst. Jeder Tag – jeder Sturm, jeder Mord, jeder zerbrochene Blumentopf – macht es uns schwerer.«
Die Beysa lehnte sich gegen die Schulter des Prinzen, und einen Augenblick schwiegen beide. Ihre Leben, die Umstände für das Überleben eines Prinzen oder einer
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