Sturm ueber roten Wassern
mit Requin auf Eis legen? Jetzt verlangen Sie auch noch von uns, dass wir alle zwei Monate zu Mutters Rockzipfeln heimkehren!«
»Die Reise zu den Geisterwind-Inseln dauert zwei bis drei Wochen, und dieselbe Zeit brauchen Sie, um nach Tal Verrar zurückzusegeln. Das lässt Ihnen reichlich Zeit, um Ihre Aufgabe zu erledigen. Wie Sie Ihre persönlichen Pläne mit Requin darauf abstimmen, ist Ihre Sache. Das sehen Sie doch sicher ein.«
»Oh nein!« Locke lachte. »Offen gestanden sehe ich nicht ein, warum wir Ihretwegen unsere eigenen Geschäfte vernachlässigen sollten.«
»Weil ich es so will, Lamora. Und ich erwarte regelmäßige Berichte über die Art und Weise Ihrer Tätigkeit auf See. Es kann sein, dass ich Ihnen neue Befehle gebe oder irgendwelche Vorschläge mache. Der Kontakt zwischen uns darf nicht abreißen.«
»Und was passiert, wenn wir Pech haben und in diese Zonen geraten, in denen überhaupt kein Wind geht? Verflixt noch mal, Jean, wie heißen diese Gegenden noch gleich?«
»Du meinst den Kalmengürtel«, half Jean aus.
»Genau.« Locke nickte inbrünstig. »Sogar wir wissen, dass es keine Garantie gibt für günstige Wetterbedingungen und gleichbleibende Winde; darüber bestimmen die Götter. Wir könnten auf einem spiegelglatten Ozean fünfzig Meilen vor Tal Verrar festsitzen, und wenn sich auch am fünfundsechzigsten Tag noch kein Lüftchen rührt, krepieren wir an dem Gift -einfach so!«
»Diese Möglichkeit besteht, ist aber sehr unwahrscheinlich. Mir ist sehr wohl bewusst, dass die Mission, auf die ich Sie schicke, mit einem hohen Risiko behaftet ist. Aber für mich steht dabei so viel auf dem Spiel, dass ich bereit bin, mich auf dieses Abenteuer einzulassen. Doch nun lassen Sie uns nicht mehr darüber sprechen. Sehen Sie sich lieber an, was ich Ihnen zeigen will.«
Auf dem schwarzen Wasser vor ihnen kräuselten sich goldene Wellen, und in der Luft darüber flimmerten vertikale Linien, die ein mattgoldenes Licht abgaben. Als sie sich dieser Erscheinung näherten, bemerkte Locke einen breiten, dunklen Umriss, der den gesamten Fluss von einem Ufer zum anderen überspannte; es schien eine Art Gebäude zu sein … und die goldenen Linien glichen Rissen in Vorhängen, die bis auf die Wasseroberfläche hinabreichten. Das Boot erreichte die Barriere und schob sich ohne viel Mühe hindurch; Locke wischte sich die schwere, feuchte Leinwand vom Gesicht, und als die Plane zur Seite klappte, stieß das Boot in helles Tageslicht vor.
Sie befanden sich in einem ummauerten und überdachten Garten, mindestens vierzig Fuß hoch; hier wuchsen Weiden, Hexenholz-, Oliven-, Zitrus- und Amberdornbäume. Schwarze, braune und graue Stämme standen in dichten Reihen; die mit Ranken umschlungenen Äste reckten sich zu weit ausladenden, glänzenden Laubkronen in die Höhe, so ineinander verfilzt und verdrallt, dass sie über dem Fluss ein zweites Dach bildeten.
Das eigentliche Dach funkelte in einem strahlend hellen Blau wie der Himmel zur Mittagsstunde; durch das Geäst der Bäume sah man dünne weiße Wolkenfetzen vorbeidriften. Die Sonne brannte schmerzhaft auf Lockes rechten Arm, als er sich umdrehte, um nach vorn blicken zu können, und ihre goldenen Strahlen fielen durch die Lücken im Laub, obwohl draußen immer noch Nacht sein musste.
»Das ist Alchemie, oder Zauberei, oder beides«, mutmaßte Jean.
»Ein wenig Alchemie«, erklärte Stragos mit leiser Stimme, in der ein begeisterter Unterton mitschwang. »Die Decke besteht aus Glas, die Wolken sind Rauch, die Sonne ist ein mit Spiegeln versehener Behälter, in dem alchemische Öle brennen.«
»Und das Licht ist so hell, dass ein Wald unter einem Dach gedeihen kann?
Verdammt!«, staunte Locke.
»Mag sein, dass das Licht wirklich dazu ausreichen würde«, entgegnete der Archont.
»Aber wenn Sie genauer hinsehen, werden Sie erkennen, dass es unter diesem Dach außer uns nichts Lebendiges gibt.«
Während Locke und Jean sich verblüfft umschauten, steuerte Stragos das Boot an eines der Ufer. An dieser Stelle verengte sich der Kanal auf eine Breite von zehn Fuß, um zu beiden Seiten Platz für Bäume, Schlingpflanzen und Büsche zu schaffen. Stragos streckte die Arme aus, packte einen Stamm, um das Boot zum Stillstand zu bringen, und deutete dann in die Luft.
»Ein mechanischer Garten für meinen mechanischen Fluss. Hier gibt es keine einzige echte Pflanze. Alles besteht aus Holz, Ton, Draht und Seide; aus Farben, Lacken und Alchemie. Ich habe die
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