Sturm ueber roten Wassern
knüpfen; dort hätte man ihnen sicher zwei dieser Klettergurte auf Bestellung angefertigt … und sich später daran erinnert. Es gab ein paar Dinge, die Requin besser nicht erfuhr; erst im allerletzten Moment, wenn der Zeitpunkt gekommen war, ihn an der Nase herumzuführen, sollte er begreifen, welches Spiel mit ihm getrieben wurde.
»Es geht los. Hier ist dein Abseilhaken.« Jean reichte Locke ein ziemlich schweres Eisenteil, das aussah wie eine Acht mit zwei ungleich großen Augen und einer dicken Stange in der Mitte. Einen dieser Abseilhaken behielt er für sich; vor ein paar Wochen hatte er diese Stücke von einem Schmied in Tal Verrars Istrianischem Halbmond anfertigen lassen. »Wir rüsten dich zuerst aus. Hauptseil befestigen und sichern.« Locke klinkte seinen Abseilhaken in einen der Ringe am Gurt ein und fädelte eines der Seile hindurch, die am Baumstamm befestigt waren. Das freie Ende dieses Seils warf er dann in Richtung des Abgrunds. Ein zweites Seil wurde an einem Gurtring festgemacht, der sich an Lockes anderer Hüfte befand. Viele Camorri-Diebe, die zur Arbeit gingen, »tanzten nackt«, ohne die zusätzliche Sicherheit eines zweiten Haltetaus, gedacht für den Fall, dass das Hauptseil riss; doch für die heutige Trainingsstunde waren Locke und Jean übereingekommen, lieber nichts zu riskieren, auch wenn sie sich dabei langweilten.
Es dauerte ein paar Minuten, bis sie Jean in einer ähnlichen Weise ausgerüstet hatten; doch dann waren beide mit jeweils zwei Tauen an dem Baum befestigt wie menschliche Marionetten. An Kleidung trugen sie ihre Tuniken, Kniehosen, Schaftstiefel und Lederhandschuhe; abschließend setzte sich Jean noch seine Lesebrille auf die Nase.
»Nun denn«, rief er. »Heute scheint ein guter Tag zum Abseilen zu sein. Möchtest du noch ein Gebet sprechen, bevor wir uns vom festen Untergrund verabschieden?«
»Korrupter Wärter«, sprach Locke, »die Menschen sind dumm. Beschütze uns vor uns selbst. Und wenn das nicht geht, beschere uns einen schnellen, schmerzlosen Tod.«
»Gut gesagt.«
Locke holte tief Luft. »Dann kann der Wahnsinn auf drei beginnen?« »Auf drei!«
Sie nahmen die aufgerollten Hauptseile und schleuderten sie mit Schwung über die Klippe, wo sie sich in der Luft mit leisem Zischen abspulten.
»Eins«, zählte Locke.
»Zwei«, fuhr Jean fort.
»Drei!«, brüllten sie gemeinsam. Dann rannten sie zum Abgrund und sprangen unter lautem Geheul in die Tiefe.
Einen kurzen Moment lang schien es Locke, als würden sein Magen und der nebelverhangene graue Himmel zusammen einen Purzelbaum schlagen. Dann straffte sich das Seil, und die Felswand stürmte für seinen Geschmack ein bisschen zu schnell auf ihn zu. Wie ein menschliches Pendel schwang er hin und her, zog die Beine an und schlug ungefähr acht Fuß unter der Abbruchkante gegen das Gestein, wobei er die Knie angewinkelt hielt, um den Aufprall zu dämpfen. An diese Vorsichtsmaßnahme konnte er sich noch gut erinnern. Zwei Fuß unter ihm krachte Jean mit einem dumpfen Wumm gegen die Felsflanke.
»Hey!«, rief Locke, dessen Herz so laut in seinen Ohren pochte, dass das Geräusch das Sausen des Windes übertönte. »Es gibt einen einfacheren Weg, um zu testen, ob unser Seilflechter uns beschissen hat, Jean.«
»Uff!« Jean bewegte ein wenig die Füße und hielt sich mit beiden Händen an seinem Tau fest. Die Abseilhaken ermöglichten es, dass sie ihren Abstieg kontrolliert verlangsamen oder gar stoppen konnten.
Diese kleinen Vorrichtungen stellten eine bedeutende Verbesserung dar zu dem, was man ihnen beigebracht hatte, als sie noch Knaben waren. Natürlich konnten sie immer noch an einem Seil herunterrutschen und ihren Körper zum Bremsen benutzen, wie sie es früher gelernt hatten, doch wenn man nicht aufpasste oder Pech hatte, konnte man sich mit dieser Methode sehr schnell einen gewissen prominenten Teil der männlichen Anatomie wund scheuern.
Ein Weilchen hingen sie bloß in der Wand, die Füße gegen die Felsen gestützt, und genossen die neue Aussicht auf die dunstigen Wolken, die über ihren Köpfen dahinjagten. Die Taue, die unter ihnen in der Luft baumelten, reichten nur bis zur Hälfte der Wand, aber sie hatten ohnehin nicht vor, bereits heute bis zum Boden zu klettern. Sie hatten genug Zeit, um bei künftigen Übungen längere Abstiege in Angriff zu nehmen.
»Du weißt ja«, begann Locke, »dass dies der einzige Teil des Plans ist, von dem ich, zugegebenermaßen, nicht ganz überzeugt war. Es
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