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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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der Erde aussehen. Rund zehn Fuß vom oberen Klippenrand entfernt gab das spärliche, olivfarbene Gras seinen Überlebenskampf auf; oben auf den Felsen, dicht am Abgrund, standen Locke und Jean und begutachteten die lotrechte Wand, die einhundert Fuß tief zu einem mit Gesteinstrümmern übersäten Boden hin abfiel.
    »Wir hätten gut daran getan, in Übung zu bleiben«, meinte Jean und fing an, sich das halbe Dutzend zusammengerollter Seile abzustreifen, das von seiner rechten Schulter bis zur linken Hüfte hing. »Allerdings hatten wir in den letzten Jahren kaum Gelegenheit, unser Können auf diesem Gebiet anzuwenden.«
    »In Camorr erreicht man fast jede Stelle, indem man Hand über Hand an einem Tau rauf oder runter klettert«, ergänzte Locke. »Ich glaube, du warst nicht mal dabei, als wir in einer Nacht mithilfe von Stricken Lady de Marres Turm hochgeklettert sind, der sich auf ihrem fürchterlichen, uralten Anwesen befand … Calo, Galdo und ich wurden von aufgebrachten Tauben beinahe zu Tode gepickt. Das muss vor fünf, sechs Jahren gewesen sein.«
    »Oh, ich war dabei, hast du das vergessen? Ich blieb unten und stand Schmiere. Den Angriff der Tauben hab ich gesehen. Es ist nicht einfach, den Wachposten zu spielen, wenn man sich vor Lachen in die Hosen macht.«
    »Wir da oben fanden das gar nicht komisch. Diese boshaften kleinen Bestien haben verdammt scharfe Schnäbel!«
    »Tod durch tausend Taubenschnäbel!«, gluckste Jean. »Ihr wäret Legenden geworden, wenn ihr auf diese grässliche Weise euer Ende gefunden hättet. Ich hätte ein Buch über die menschenfressenden Tauben von Camorr geschrieben und wäre dem Theriner Kollegium beigetreten. Wäre glatt seriös geworden. Für die Sanza-Brüder hätten Bug und ich eine Statue errichten lassen, mit einer schönen Gedenktafel.«
    »Und wo bleibe ich?«
    »Dich hätten wir in einer Fußnote auf der Tafel erwähnt. Vorausgesetzt, der Platz hätte gereicht.«
    »Gib mir endlich ein Seil, oder ich schicke dich auf der Direttissima nach unten – ohne Aussicht auf Gedenktafel.«
    Jean warf Locke ein aufgerolltes Seil zu, der es in der Luft auffing und zum Wald zurückmarschierte, der ungefähr dreißig Schritte vom Abgrund entfernt begann. Das Seil bestand aus dicht geflochtener Halbseide, die viel leichter war als Hanf, dafür wesentlich teurer. Dann suchte Locke einen hohen alten Hexenholzbaum aus, mit einem Stammumfang, der ungefähr Jeans Schulterbreite entsprach. Er zog ein langes Stück Seil aus der Rolle, schlang es um den Baumstamm und starrte eine Weile auf das ausgefranste Ende, während er sich zu erinnern versuchte, wie man bestimmte Knoten knüpfte.
    Als er schließlich zögernd die Finger bewegte, betrachtete er flüchtig die trostlose Umgebung. Von Nordwesten blies eine steife Brise, und der Himmel glich einem gigantischen Katarakt aus mit Feuchtigkeit durchtränktem Dunst. Ihre Mietdroschke wartete am anderen Ende des Waldes, vielleicht dreihundert Yards entfernt. Er und Jean hatten den Kutscher mit einem Krug Bier und einem Korb voll köstlichen Proviants aus der Villa Candessa versorgt und versprochen, nicht länger als ein paar Stunden fortzubleiben.
    »Jean«, murmelte Locke, als sein stämmiger Freund sich zu ihm gesellte, »das ist doch ein Palstek, oder?«
    »Sieht jedenfalls so aus.« Jean nahm den komplizierten Knoten, mit dem das Seil am Baum festgebunden war, in Augenschein und nickte. Dann griff er nach dem Ende des Taus und knüpfte zur Sicherheit noch einen halben Stek. »So. Das reicht.« Ein paar Minuten lang setzten die beiden ihre Arbeit fort und befestigten drei weitere Seile mit Palsteks an dem Stamm, bis der alte Hexenholzbaum über und über mit straff gezurrter Halbseide geschmückt war. Die restlichen Taurollen hatten sie beiseite gelegt. In aller Ruhe schlüpften die beiden Männer aus ihren langen Gehröcken und Westen und enthüllten dabei die schweren, mit Eisenringen bestückten Ledergürtel, die ihre Taillen umspannten.
    Die Gürtel waren ein wenig anders als die üblichen Sicherheitsgurte, welche die verantwortungsvolleren Fassadenkletterer in Camorr bevorzugten; Lockes und Jeans Haltegeschirre stammten ursprünglich aus der Schifffahrt und wurden von den glücklichen Matrosen getragen, die auf Schiffen fuhren, deren Eigner bereit waren, für den Schutz der Besatzungen Geld auszugeben. Die Geschirre hatten sie billig erstanden, und dadurch blieb es Locke und Jean erspart, Kontakte mit Tal Verrars Unterwelt zu

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